EINFÜHRUNG
dieses Elements oder sein Charakter für die künstlerische Wertung des Werkes aller¬
dings keinerlei entscheidende Bedeutung hat. Die bildende Kunst kann somit eine
der Schrift vorbehaltene Funktion haben, und in der Regel trifft das zu. Doch was
die Schrift gegenüber derartigen Kunstäußerungen kennzeichnet, ist ihre Fähigkeit,
den menschlichen Gedanken ganz und restlos in eindeutiger Übertragung auszudrük-
ken. Dem Bereich des Kunstwerks, das die Neuschöpfung einer bisher noch nicht
existierenden Realität, eine einmalige und weiterhin ihr eigenes unabhängiges Leben
lebende Schöpfung darstellt, können keinerlei weitere Entwicklungsformen der Schrift -
und schon gar nicht mechanisch - zugeordnet werden ; ihre Zweckbestimmung weist
sie in formaler Hinsicht der Kategorie der angewandten Künste zu. Dafür stehen
meines Erachtens die hochentwickelten Inschriftenformen als eine eminent funktionelle
und konzentrierte Äußerung des künstlerischen Schöpferwillens neben der Architektur
zweifellos auf der höchsten Sprosse der Stufenleiter. Wenn irgendetwas ein beispiel¬
haftes Maximum an funktioneller bildkünstlerischer Flächengliederung aufweist, dann
ist dies unzweifelhaft die vollendete klassische Inschrift.
Daß die Bildkunst und die Schriftkunst verwandt sind, geht nicht nur aus der Tat¬
sache hervor, daß große Persönlichkeiten der Malerei und Bildhauerei sich schöpfe¬
risch an der Schriftzeichnung beteiligt haben - wir werden oft Gelegenheit haben, das
bei der Behandlung der Geschichte der Lateinschrift festzustellen -, sondern auch
aus der Fachterminologie mit der Ethymologie des Wortes schreiben an erster Stelle.
Der Bildhauerei steht das lateinische scribere nahe ; bevor es ‘schreiben’ besagte, hatte
es die Bedeutung ‘einritzen’. Davon abgeleitet ist das italienische scrivere, das fran¬
zösische écrire, das spanische escribir und das deutsche schreiben. Dieselbe Bedeutung
hatte ursprünglich auch das griechische graphein und das altnordische rita, von dem
das englische to write herkommt. Vergegenwärtigen wir uns auch, daß beispielsweise
der tschechische Ausdruck psáti sich aus der altslawischen Form pisatj, malen, ent¬
wickelt hat, die noch heute in den russischen Wörtern iiwopis und ziwopisatj lebendig
und mit dem lateinischen pingere in derselben Bedeutung verwandt ist (Taylor, Jensen,
Loukotka).
Bildkünstlerische Qualität und Schönheit kennzeichnen die hervorragendsten Bei¬
spiele aus allen Entwicklungsphasen fast sämtlicher Schriftsysteme und -arten. Am
deutlichsten sind diese Werte allerdings dort, wo sich die Schrift noch nicht allzu weit
vom Bildprinzip entfernt hat oder wo die Schrifttechnik sich bis zu einem gewissen
Grad noch mit der künstlerischen Technik deckt, wie dies bei den dekorativ wirkungs¬
vollen, mit Pinsel und Tusche geschriebenen chinesischen Schriftzeichen oder bei der
ausgesprochen ornamentalen arabischen und indischen Schrift der Fall ist. Doch auch
die Lateinschrift, die schon vor zweieinhalb Jahrtausenden eine rein abstrakte Form
erreicht hatte, eine Form, die zum zeichnerischen Minimum eines geometrischen Zei¬
chens zusammengefaßt ist, hat dadurch kaum etwas eingebüßt, und in manchen For¬
men hat sie sogar an Schönheit und künstlerischer Ordnung gewonnen. Der schöne
Buchstabe des klassischen römischen Monumentalalphabets kann dem kultivierten
Auge sicherlich einen nicht geringeren ästhetischen Genuß vermitteln als ein durch¬
schnittliches Bild, und bestimmt einen unvergleichlich größeren als ein schlechtes.
Die enge Beziehung der bildenden Kunst zur Schrift kommt nicht nur dadurch zum
Ausdruck, daß sich Maler, Bildhauer und Architekten jederzeit am eigentlichen Schrift-
kunstschaffen beteiligten, woraus die Schriftwissenschaft einige terminologische Be¬
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EINFÜHRUNG
griffe wie z. B. Balken, Schriftzeichnung, Schriftbild, Schriftfärbung u. a. schöpfte,
sondern oft auch durch ihre direkte und fruchtbare Mitarbeit an der Lösung wissen¬
schaftlicher Probleme der Schrift. Hier wäre inzwischen wenigstens der Anteil der
Maler Andrea Mantegna, Jacopo Bellini, Albrecht Dürer und der Architekten Leon
Battista Alberti, Fra Giovanni del Giocondo und Sebastiano Serlio in den ersten An¬
fängen der Schriftwissenschaft im 15. und 16. Jahrhundert, oder in jüngst vergangener
Zeit der des Architekten Michael Ventris, des berühmten Entzifferers der kretischen
Linearschrift B, zu nennen.
Seit Andrea Mantegnas Zeiten sind die Probleme der Schrift zum Gegenstand der
Forschung einer ganzen Reihe von Disziplinen geworden, deren jede sich auf einen
mehr oder weniger eng umgrenzten Abschnitt ihrer Entwicklung spezialisiert hat.
Mit gewissen Fragen, vor allem jener nach dem Ursprung und den ältesten Ent¬
wicklungsphasen der Schrift, befassen sich sogar verschiedene Wissenschaften gleich¬
zeitig, deren allzu enge Spezialisierung oft einem synthetischen Überblick dieser Ab¬
schnitte der Vorgeschichte und Geschichte unserer Schrift hinderlich ist. Bei unserem
Studium werden wir also aus zahlreichen Wissenschaften schöpfen müssen, um zu
grundlegenden Erkenntnissen über den Gegenstand unseres Interesses zu gelangen.
Darum wird es vielleicht nützlich sein, schon jetzt einige dieser Disziplinen zu nennen.
Die Mehrzahl der grundlegenden Arbeiten über die Entstehung der Schrift, über ihr
Verhältnis zur Sprache und über die gegenseitigen Beziehungen verschiedener Schrif¬
ten aller Zeiten und Völker wurde von Forschern auf dem Gebiet der Philologie heraus¬
gegeben. Diese stützt sich jedoch selbst auf die Erkenntnisse verschiedener wissen¬
schaftlicher Fachgebiete, vor allem der Archäologie, die uns insbesondere in den ersten
Kapiteln über die ältesten Versuche einer schriftlichen Äußerung des Menschen Aus¬
kunft geben kann. Da diese Bemühungen ihre ersten entwicklungsfähigen Ergebnisse
im Nahen Orient gezeitigt haben, müssen wir uns jenen Wissenschaften zuwenden,
die sich mit den Problemen dieser Gegend befassen: der Orientalistik und ihren spe¬
zialisierten Zweigfächern — der Ägyptologie und der Semitologie. Mit dem Übergang zur
ältesten Geschichte der Schrift in Europa kommen wir mit der klassischen Archäologie
und anderen Wissenschaften in Berührung, die sich speziell mit der Entwicklung der
griechischen Schrift befassen. In unserer unmittelbaren Interessensphäre, der Ge¬
schichte unserer Lateinschrift, werden wir sodann vor allem die Hilfe der lateinischen
Epigraphik benötigen, einer Wissenschaft, die sich dem Studium der Inschriftendenk¬
mäler widmet, und der lateinischen Paläographie, die die geschriebenen Buch- und Ur¬
kundendenkmäler studiert. In diesen Wissenschaften hat sich seit der Entdeckung von
auf Papyrus geschriebenen Texten eine weitere spezialisierte Wissenschaft hinzugesellt,
die Papyrologie. Doch es gibt noch andere Wissenschaften, mit denen wir beim Studium
der Schrift in Berührung kommen, wie die Kodikologie, die Diplomatik, die Numismatik
und die Sphragistik, die sich mit der Erforschung alter Kodizes, höfischer Urkunden,
Inschriften auf Münzen und Siegeln befassen. Beim Studium alter Druckschriften
werden wir uns auf die Forschungsergebnisse der Paläotypie stützen müssen, einer Wis¬
senschaft, die mit ihrem Programm bisher von allen klassischen historischen Diszi¬
plinen am weitesten in die Gegenwart hineinreicht. Die wissenschaftliche Untersuchung
der jüngeren Schriften aus der Neuzeit und der jüngsten Vergangenheit hat sich einst¬
weilen noch zu keiner näher definierten und bezeichneten wissenschaftlichen Disziplin
konstituiert, obwohl es eine beachtliche Reihe sachkundiger Fachleute auf diesem
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