RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
Schriften des 2. und 3. Jahrhunderts, in der ‘primitiven’ Buchminuskel dieser Epoche
suchen muß. Für die Entwicklung erhält die letztere durch diese Tatsache somit eine
absolut erstrangige Bedeutung in der Geschichte der Lateinschrift. Und da die Ent¬
stehung der frühen römischen Minuskel hier bereits, wie ich hoffe, in den Abschnitten
über die römischen gemischten Buchschriften auf befriedigende Weise erklärt wurde,
ist es vielleicht nicht mehr notwendig, die vorsichtige Theorie über das Zustande¬
kommen dieser Schriften und der jüngeren römischen Kursiv aus einem bisher noch
nicht bestimmten Prototyp, aus dem sich diese beiden neuen ‘Minuskel’-Schriften
parallel entwickelt haben sollen, in Betracht zu ziehen.
Während sich in der älteren Kursiv ständig eine gewisse formale Tendenz geltend
machte, z. B. das lange Zeit lebendige Prinzip, einzelne Buchstaben isoliert zu schrei¬
ben, hat die jüngere römische Kursiv von Anfang an den Charakter einer Schnell¬
schrift. Die Tatsache, daß beide Schriften lange nebeneinander vorkamen, kann auf
Grund einiger urkundlicher Denkmäler, die aus papyrologischen Funden in Ägypten
stammen, als erwiesen gelten. In diesen Urkunden sind die charakteristischen Merk¬
male beider Typen vermischt. Es handelt sich z. B. um ein Testament aus dem Jahre
131, einen Brief aus den Jahren 202-207 oder eine Petition aus dem Jahre 247, die
außer griechischen Texten einen in klassischer Kursiv und einen anderen in der jün¬
geren römischen Kursiv geschriebenen lateinischen Text enthalten (Malion). Das be¬
deutet zugleich, daß die Entstehung der neuen römischen Kursiv weit früher anzu¬
setzen ist als man vermutete, und zwar bestimmt ins dritte, wenn nicht schon ins
zweite Jahrhundert. Auf der anderen Seite gibt es eine ganze Reihe von Belegen für
das Überleben der älteren römischen Kursiv in Handschriften aus dem vierten und
den folgenden Jahrhunderten, in denen die jüngere Kursiv bereits überwiegt, d. h.
weitere Beweise der gleichzeitigen Existenz beider Typen der römischen Kursiv.
Von den erhaltenen Denkmälern der jüngeren römischen Kursiv ziehen die größte
Aufmerksamkeit Papyrusurkunden auf sich, deren Schrift als Kursiv der ravennatischen
Urkunden bekannt ist; sie stelle, so wird behauptet, die vom Beginn des 6. Jahrhunderts
an bereits zu einer charakteristischen Urkundenschrift stabilisierte jüngere römische
Kursiv vor, die zum Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung wurde. Bei einer nur
allgemeinen Beurteilung der Schrift dieser ravennatischen Papyri scheint das aller¬
dings eine etwas gewagte Behauptung zu sein. Auf den ersten Blick wirkt die Schrift
des Testaments aus dem Jahre 552 (Tafel XXXIX) und anderer älterer oder jüngerer
ravennatischer Urkunden ebenso chaotisch und unleserlich wie die meisten Kursiv¬
schriften der vorhergehenden Zeitabschnitte, weshalb uns das Gefühl, daß der vor¬
gebliche Fortschritt eine bloße Fiktion sei, leicht irreführen könnte. Und dennoch
stellen wir in der Schrift dieser Papyri einige bedeutsame Momente fest, z. B. die
Vergrößerung der Differenz zwischen der mittleren Minuskelhöhe und den Ober- und
Unterlängen sowie eine Rechtsneigung des kursiven Duktus als Ganzem. Was uns
diese Texte jedoch bislang unlesbar scheinen läßt, ist das System der Ligaturen und
die Schreibweise ohne Lücken zwischen den Worten. Interessant ist, daß gewisse
Buchstaben stets isoliert geschrieben und andere wiederum konsequent durch Liga¬
turen mit weiteren, denen dasselbe Schicksal beschieden ist, verknüpft werden. Wenn
wir jedoch versuchen, auch solche Buchstaben zu isolieren und zu einem Alphabet
zusammenzustellen (Abb. 133)5 erhalten wir ein wichtiges Entwicklungsglied, das die
jüngere römischen Kursiv mit der gesamten weiteren Entfaltung der Lateinschrift
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132. Jüngere römische Kursiv, 4. Jahrhundert.
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