RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
das e; sie soll von der kursiven Majuskelform - zwei senkrechten Strichen - abgeleitet
sein. Eine sehr merkwürdige Kursivkürzung der ursprünglichen Majuskel zeigt hier
das ». Nicht weniger kurios wirkt das verkleinerte m, das an die Linie der mittleren
Schrifthöhe angehängt wurde, etAnso wie die gleichfalls miniaturenhaften Buchstaben
о und v. Die Buchstaben f und j sind hier sodann mit einer gemeinsamen Form ver¬
treten, die nur durch den horizontalen Mittelstrich des f differenziert wird. Diese
Form wird weiterhin für die beiden Buchstaben charakteristisch sein. In den kaiser¬
lichen Reskripten finden wir jedoch nur selten einen von ihnen in seiner reinen, nicht
von Ligaturen verunstalteten Form vor. Und doch wirkt diese Kursiv in der Textzeile
verhältnismäßig distinguiert, die dünne, unschattierte Zeichnung ihrer hohen und
schmalen, leicht nach rechts geneigten Buchstaben läßt trotz aller Deformationen in
den Ligaturen eine gewisse Sorgfalt erkennen, wie sie begreiflicherweise bei der Nieder¬
schrift derartiger hochoffizieller Urkunden am Platz war.
Wenn es keinem Zweifel unterliegt, daß diese römische diplomatische Kursiv des
4.-5. Jahrhunderts mit ihrem Duktus nichts anderes ist als ein kalligraphisches Derivat
der alten klassischen Kursiv, haben wir anderseits zugleich Beweise dafür, daß schon
im 4. Jahrhundert eine neue Kursivform Fuß faßte: die JÜNGERE RÖMISCHE
KURSIV. Davon zeugen zwar nicht allzu zahlreiche, aber datierbare Fragmente
anderer Schriftstücke, in denen diese Kursiv bereits einen stark ausgeprägten Cha¬
rakter aufweist, wie z. B. die Kursiv eines in Straßburg befindlichen Briefes aus der
Zeit vor 362 (Tafel XXXVIII). Obwohl der Buchstabe N in Majuskelform hier noch
von einer gewissen, bis dahin nicht überwundenen Übergangsstufe zeugt, ist die neue
Kursiv mit dieser Ausnahme bereits zu einer Form gediehen, die in Zukunft nur Ein¬
flüsse territorialer Art und die Individualität des Schreibers der Handschrift wider¬
spiegeln wird. Auch hier führen allerdings die Ligaturen, bisher das einzige Mittel
zur Erzielung eines flüssigen Duktus, dazu, daß die Grundkonstruktion der einzelnen
Buchstaben unter zahlreichen, voneinander ziemlich stark abweichenden zeichne¬
rischen Varianten verborgen ist. Nichtsdestoweniger können wir mit Hilfe einer Trans¬
skription des Textes feststellen, daß eine ganze Reihe von Buchstaben hier in der heute
noch gültigen Gestalt vorkommt. Das a hat im Wesentlichen seine Kursivform mit
einem Bauch, der meist offen, manchmal aber auch geschlossen ist. Im Grunde dieselbe
heutige Minuskelform haben auch die Buchstaben c, d, f h, i, l, m, 0, p, q, r, u-v, x,
also ein gut Teil des ganzen Alphabets. Nur das b mit linkem Bauch, die Form des j,
die noch nicht allzu weit von der Majuskel entfernte Kursivform des t und das noch
ganz majuskelartige N weichen grundsätzlich von unserem modernen Kursivalphabet
ab. Die Majuskelform dieses Buchstabens in der Schrift des erwähnten Briefes be¬
rechtigt uns jedoch nicht zu der Folgerung, daß dies die einzige Form war, in der das
N in der römischen neuen Kursiv dieser Zeit vorkam. Ein anderes, sogar um einige
Jahre älteres Dokument, die Abschrift eines kaiserlichen Reskripts aus der Zeit um
344 auf einem Papyrusfragment der Leipziger Universität, das in Ägypten gefunden
wurde (Tafel XXXVI Ia), ist ein Beweis dafür, daß die neue Form des » sich zu
diesem Zeitpunkt offenbar bereits ebenso eingelebt hatte wie ihre Analogie, das Mi¬
nuskel-»?. Im Alphabet der Schrift dieser Urkunde (Abb. 132) können wir einen be¬
sonders anschaulichen Vergleich aller Veränderungen anstellen, die in der Zeichnung
gewisser Buchstaben der jüngeren römischen Kursiv, dieser laut Jean Malion ‘neuen
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JÜNGSTE RÖMISCHE KURSIV
gewöhnlichen Schrift’ (écriture commune nouvelle), aufgetreten waren. Wie kam es zu
diesen Veränderungen? Können wir sie uns durch eine natürliche und kontinuierliche
Entwicklung aus der älteren römischen Kursiv erklären, wie es sämtliche älteren Pa-
läographen taten und zahlreiche moderne Forscher (Schiaparelli, Battelli) heute noch
131. Duktus des Buchstabens A in der römischen klassischen Kursiv, in der Unziale
und in der jüngeren römischen Kursiv.
tun? Aber ist es überhaupt möglich, daß z. B. die neue Form des a sich allmählich
und kontinuierlich aus der älteren Kursiv entwickelt hat, wenn dieser Buchstabe dort
einen völlig entgegengesetzten Duktus aufweist? Es liegt auf der Hand, daß das nicht
möglich war, und daß der Duktus des a in der neuen Kursiv ganz anderen Ursprungs
ist, den man außerhalb der älteren römischen Kursiv suchen muß. Meiner Meinung
nach kann man ihn einzig vom Duktus dieses Buchstabens in der Unziale ableiten
(Abb. 131). Und da das A der römischen Unziale, wie wir bereits wissen, aus der grie¬
chischen Unziale übernommen wurde, läßt sich vielleicht auch seine Urform in der
jüngeren römischen Kursiv von dort ableiten. Weniger schwierig ist die Erklärung
der Form des Buchstabens b mit rechtem Bauch, denn dieser sind wir bereits begegnet.
In unserem Fall handelt es sich lediglich um eine Vereinfachung des in der Schrift
der Epitomae Livii (Abb. 102) aus zwei Zügen zusammengesetzten Duktus zu einem
einzigen Strich. Im Wesentlichen gilt dasselbe vom Buchstaben d. Schwieriger scheint
es zu sein, die Herkunft der Form des g zu erklären, aber auch sie läßt sich vom älteren
Duktus der formalen gemischten Buchschriften ableiten. Der ursprüngliche erste Strich,
mit dem der Großteil der Rundung und der Ausläufer gezogen wurde, blieb in der
neuen Kursiv erhalten, aber er verläuft weit unterhalb der Fußlinie und ist zurück¬
gebogen, wie es manchmal in der Unziale der Fall war. Der zweite Zug deutet den
oberen Teil der Rundung der Majuskelform des G an, wird jedoch in der Horizon¬
talen begradigt. Die neue Form des n stellt eine bloße Schreibanalogie des ähnlich
behandelten m dar. Auch die Form des Buchstabens ist im Grunde keineswegs neu,
denn sie stellt nur eine kursive Schreibkürzung vor, die dem Wunsch entsprang, den
Buchstaben in einem Zug zu schreiben.
Aus der Analyse des Alphabets dieses typischen Beispiels einer jüngeren römischen
Kursiv des 4. Jahrhunderts ergibt sich zweifelsfrei, daß die Vermutungen über ihre
natürliche und allmähliche Entwicklung aus der älteren römischen Kursiv unrichtig
sind. Doch diese Analyse läßt zugleich den Rückschluß zu, daß man den Beginn der
Entwicklung der jüngeren römischen Kursiv in den gemischten römischen Buch-
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