RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
werden. Im Übrigen aber, wie bereits gesagt, bleibt diese klassische römische Kursiv
des 2. Jahrhunderts im Wesentlichen dieselbe wie ihre frühen Beispiele aus dem i.
Jahrhundert v. Chr. Die ältere römische Kursiv blieb in etwa dieser Gestalt bis ins
4. Jahrhundert in Gebrauch. Doch schon vor diesem Zeitpunkt kann man im 3. Jahr¬
hundert bei manchen römischen kursiven Schriftstücken eine Kursiv von ganz ande¬
rem Typus feststellen, von der man bisher annahm, daß sie durch die allmähliche
und flüssige Umwandlung der älteren römischen Kursiv entstanden sei. Diese neue
Schrift habe dann im 4. Jahrhundert, als die allmähliche Umwandlung vollendet
gewesen sei, die ältere römische Kursiv völlig und für immer aus dem Bereich des
kursiven Schreibens verdrängt.
Die ältere römische Schrift für den täglichen Gebrauch sei zwar ihrem äußeren
Charakter nach ‘kursiv’ gewesen, aber noch nicht auf jener Stufe, daß beide hier
bereits erwähnten Hauptelemente der Kursiv voll zur Geltung kamen. Das erste dieser
Elemente sind die Verbindungslinien, jene Züge, die die einzelnen Buchstaben ver¬
binden, um eine größere Schnelligkeit und eine fließende Schrift zu gewährleisten.
Diese Eigenschaft kennzeichnete jedoch, wie wir eben festgestellt haben, auch die mit
klassischer Kursiv geschriebenen Handschriften. Das hatte allerdings auch insofern
ungünstige Folgen, als auf diese Weise sehr undeutliche Ligaturen zustandekamen,
die die Zeichnung ein und desselben Buchstabens je nach der Form des benachbarten
weitgehend veränderten. Auch das zweite Kennzeichen der jüngeren Kursivschriften,
das angeblich Schlüsselbedeutung habe und darin bestehe, daß gewisse Striche mit
Absicht über oder unter die Grenzlinien der gemeinsamen Höhe des eigentlichen
Schriftbildes hinaus verlängert werden, konnten wir nicht nur bei der klassischen
römischen Kursiv, sondern auch bei den gemischten Buchschriften des formalen Typus
aus dem 2. und 3. Jahrhundert feststellen. Die über das ‘Majuskel’-System hinaus¬
ragenden Striche hatten den Zweck, die Buchstaben schärfer zu unterscheiden und
damit ihre Lesbarkeit, die infolge des gebundenen Duktus gerade bei den Kursiv¬
schriften stark gelitten hatte, zu verbessern. Auf Grund dieser verlängerten Züge stabi¬
lisierte sich sodann ein Schriftsystem mit vier Linien, das für die jüngere römische
Kursiv bereits verbindlich gewesen sein soll.
Dieser ‘Minuskel’-Charakter der jüngeren römischen Kursivschriften ist jedoch, wie
wir alsbald sehen werden, keineswegs ausgeprägter als bei den erwähnten älteren
römischen Kursiv- und Buchschriften, ähnlich wie das zweilinige Majuskelsystem nicht
bei allen Majuskelschriften immer deutlich und konsequent genug eingehalten wird.
Der äußeren Erscheinung nach wird den jüngeren römischen ‘Minuskel’-Kursiv¬
schriften manchmal die RÖMISCHE DIPLOMATISCHE KURSIV zugeordnet,
die Schrift einiger Fragmente amtlicher Urkunden - kaiserlicher Reskripte des 4.-5.
Jahrhunderts -, die in Ägypten gefunden wurden (Abb. 130). Die schwer lesbare und
kuriose Schrift dieser von der damals in Konstantinopel residierenden kaiserlichen
Kanzlei ausgefertigten Papyri wurde im Jahre 1841 von Maßmann in Leipzig ent¬
ziffert und von Mommsen nach den Texten in die Zeit nach 413 datiert. Einige Pa-
läographen wagten es dann, die Datierung dieser Reskripte ins 3.-4. Jahrhundert
vorzuschieben und die Vermutung auszusprechen, daß eine graphisch so hochent¬
wickelte Schrift notwendig eine längere Vorentwicklung gehabt haben müsse (Sil¬
vestre). Dieser Ansicht hat sich neuerdings auch Jean Mallon angeschlossen. Er datiert
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128. Römische klassische Kursiv. 2. Jahrhundert.
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