RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
Erscheinung tritt. Zum Schreiben einer Schrift dieses Typus wurde jedoch in der
Regel eine sehr harte und nur kaum merklich zugeschnittene Feder verwendet, wes¬
halb die Zeichnung der Buchstaben meist sehr dünn und kontrastlos wirkte wie z. B.
bei einer Papyrusrolle der Orationes des Claudius aus dem i. Jahrhundert unserer
Ära, also einer kursiv geschriebenen literarischen Handschrift (Tafel XXXIV).
Die Zusammensetzung des Alphabets der Schrift dieses Papyrus (Abb. 123) ist im
Grunde die gleiche wie beim vorgenannten Alphabet, aber in gewissen Details den¬
noch stark verschieden. Ausgeprägter ist hier schon der Kursivcharakter der Schrift
als Ganzem, sie hat eine feine und fast kontrastlose Zeichnung und läßt schon über¬
haupt keine graphische Ordnung mehr erkennen, denn nicht einmal die Fußlinie
wird hier mehr als nur annähernd respektiert. Nach oben oder unten werden weitere
Buchstaben verlängert, z. B. das С, E, G, H, I, L und X. Andere, z. B. das M, N, О
und V, füllen mit ihrem verkleinerten Schriftbild nicht einmal die durchschnittliche
Höhe der übrigen Buchstaben aus und werden an die imaginäre Linie einer mittleren
‘Minuskel’-Höhe angehängt. Am deutlichsten wird das beim Miniaturringlein des О
und beim Häkchen des V. Eine neue Form hat hier das D, das nunmehr in einem Zug
geschrieben wird. Der zweite kursive Strich des R hat die Horizontallage erreicht,
ebenso der zweite Zug des Buchstabens X. Beim S, dessen oberer Teil schräg weit
nach oben gezogen wird, tritt jedoch neuerlich eine angedeutete untere Schleife in
Erscheinung. Im ganzen handelt es sich hier bereits um eine sehr kursive, sehr fließend
geschriebene Schrift, was bei einer literarischen Handschrift sicher bemerkenswert ist.
Es ist daher nicht wahrscheinlich, daß diese Handschrift für den Buchmarkt bestimmt
war, sondern sie scheint vielmehr für den Eigenbedarf des Schreibers angefertigt
worden zu sein.
Weit bedeutsamer ist jedoch die aus den Beispielen der entsprechenden Handschrif¬
ten erkennbare Tatsache, daß die einzelnen Buchstaben beider hier so ausführlich
behandelter Schriften isoliert und jeder für sich geschrieben wurden, und daß man
nur selten den letzten Zug des einen Buchstabens mit dem ersten Strich des nach¬
folgenden verband. Dieser formale Rest in der Schreibausführung ist offenbar der
Rücksicht auf die gute Lesbarkeit der Texte zuzuschreiben, aber diese Rücksichten
traten meist hinter der Forderung nach größter Schreibgeschwindigkeit zurück. Eine
solche war nur durch flüssiges, ununterbrochenes Schreiben erreichbar, das in einem
Zug erfolgte, ohne daß die Feder sich von der Schreibfläche absetzte. Derartige Be¬
strebungen äußern sich in gewissem Grade schon im Fragment eines ägyptischen Pa¬
pyrus mit einem Vertrag aus dem Jahre 77 unserer Zeitrechnung (Tafel XXXVII b).
Obwohl das Prinzip der Ligaturen hier noch nicht ganz konsequent zur Geltung
kommt, ist die Lesbarkeit dieser Handschrift bereits stark verschlechtert. Eine andere
Folge ist die bunte Vielzahl verschiedener Varianten der einzelnen Alphabetbuch¬
staben (Abb. 124); diese Buntheit ergibt sich aus den Ligaturen von Buchstaben¬
paaren mit verschiedenem Duktus. Es ist sicher bemerkenswert, daß wir aus einem so
begrenzten Beispiel einer Handschrift acht verschiedene Varianten des Buchstabens
E für unser Alphabet auswählen konnten. Dieser Buchstabe entfernt sich in manchen
Formen am weitesten von der Grundkonstruktion. Insbesondere die beiden letzten
Varianten erinnern in nichts mehr an die ursprüngliche Majuskelkonstruktion, die
hingegen in den beiden ersten Varianten ganz offenkundig ist. Die übrigen Buch¬
staben sind schon weit weniger verändert. Beim A wird der zweite Strich bereits ohne
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123. Klassische römische Buchkursiv, 1. Jahrhundert.
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