RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
schnellen Schreiben verbunden worden. So wurde der Schaft und der untere Teil des
Bauches der B-Majuskel zur flüchtigen Andeutung beider Striche in Gestalt einer
Krümmung, über der eine Wellenlinie den oberen Bauch und die obere Hälfte des
unteren Bauches darstellte. Das Ergebnis ist somit nicht die Form mit linkem Bauch,
121. Duktus des Buchstabens В der römischen klassischen Kapitale und der klassischen Kursiv.
sondern eine überhaupt ohne Bauch. In unserem Fall lassen die beiden ersten Va¬
rianten noch erkennen, daß der dritte und vierte Strich manchmal als zwei Striche
empfunden waren, aber öfter finden wir eine zusammenhängende, nicht mehr unter¬
brochene Wellenlinie vor. Was die Bogenlinie der angedeuteten beiden ersten Striche
betrifft, hat das В eine Analogie in der Zeichnung des Buchstabens D, dessen ursprüng¬
licher Schaft und unterer Teil des Bauches auf gleiche Weise zu einer einzigen Bogen¬
linie verbunden werden. Bezeichnend und neu ist bei diesem Buchstaben jedoch die
Abkürzung der oberen Bauchpartie zu einem konkav gekrümmten Strich, der dem
ähnlich angedeuteten Bauch des P entspricht, dessen erster und zweiter Zug, ursprüng¬
lich der Schaft mit der unteren Serife, gleichfalls zu einer Bogenlinie verbunden sind.
Das in der Kapitale mit vier Zügen geschriebene E wurde zu drei Strichen vereinfacht,
deren erster und zweiter wiederum wie beim В mit einer einzigen Bogenlinie ange¬
deutet werden. Das F behält seine ursprüngliche Form im wesentlichen bei, nur sein
Schaft wird tief unter die Fußlinie verlängert. Besonders typisch für dieses Alphabet
ist die Verlängerung der geradzahligen Züge des Buchstabens M, ähnlich wie das bei
der klassischen Kapitale und der römischen epigraphischen Dokumentarschrift der
Fall ist. Dasselbe gilt auch vom Buchstaben N, dessen erster Strich in der Regel unter
die Fußlinie verlängert wird. Eine neue Form zeigt das Q_, dessen erster Zug die ganze
ursprüngliche Kreislinie der Majuskel umschreibt. Darum ist der zweite Strich, der
den Schweif der Majuskelform ziehen soll, so hoch am Kopf des Buchstabens ange¬
setzt, wird dafür aber weit nach rechts unter die Fußlinie verlängert. Eine kuriose
Form zeigt das R, man kann sie jedoch leicht von der klassischen Kapitale ableiten.
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KLASSISCHE RÖMISCHE KURSIV
Vom ersten und zweiten Strich ist hier ein einziger tief nach unten verlängerter Zug
übriggeblieben, während Bauch und Schrägfuß zu einer mehr oder weniger ausge¬
prägten Wellenlinie verbunden wurden. Das S hat seine untere Schleife eingebüßt,
ist aber über die anderen Buchstaben hinausgewachsen und reicht oft auch unter die
Fußlinie. Die kursive Form des V hat die heutige Minuskelform и mit rechtem gera¬
dem und senkrechtem Schaft erhalten. Das ganze Alphabet kennzeichnet sodann
neben einer leichten Rechtsneigung vor allem, daß hier außer der Fußlinie überhaupt
keine Begrenzung irgendeines Systems eingehalten wird. Denn viele Striche überragen
das eigentliche Schriftbild nach oben und andere wiederum nach unten, in beiden
Fällen ohne eine sichtbare Ordnung. Somit hat diese Schrift nicht das Geringste von
einer Majuskel, und sie als römische Majuskelkursiv zu bezeichnen, wie es früher
manchmal geschah, ist ein offensichtlicher Irrtum. Wenn diese Kursiv von der pri¬
mären römischen Majuskel abstammt, was die majuskelartige Konstruktion von mehr
als der Hälfte der Buchstaben des Alphabets beweist, so hat sie ihren Majuskelcha¬
rakter durch den kursiven Duktus völlig eingebüßt. Unser Beispiel ist allerdings nicht
der einzige Fall einer solchen Kursivschrift dieser Zeit. Von gleichem Typus ist auch
Delitschs Alphabet, das nach seinen Angaben aus der Schrift eines in Wien befindli¬
chen Briefes aus den Jahren 21-18 oder 17-14 v. Chr. (Abb. 122) zusammengestellt
wurde. Diese Schrift kennzeichnen bemerkenswert verlängerte Striche und kursive
Formen der Buchstaben B, D, F, I, K, Q,, R und S, ebenso wie die nicht weniger weit
vorstoßenden geradzahligen Züge der Majuskelformen des A und N, was die Zuge¬
hörigkeit dieser Schrift zur klassischen Kapitale besonders einleuchtend nachweist.
Beim Buchstaben A sei außerdem auf die Andeutung des Querstrichs der Majuskel¬
form hingewiesen, der im vorgenannten Alphabet bereits in der rückläufigen Krüm¬
mung des zweiten Strichs verborgen war.
Die Veränderungen der Grundkonstruktion, die die Form der Buchstaben B, D, P,
Qund R in der römischen Kursiv des 1. vorchristlichen Jahrhunderts erkennen läßt,
sind so radikal und wesentlich, daß wir nicht umhin können, eine längere Vorent-
wicklung vorauszusetzen, eine Zeit der allmählichen und unmerklichen Wandlung,
die erforderlich war, um nicht nur die Hand, sondern vor allem das Auge mit ihr
vertraut zu machen (Mallon). Doch es waren nicht allein Veränderungen der Kon¬
struktion, die schon die ältesten uns bekannten römischen Kursivhandschriften kenn¬
zeichnen. Ihre charakteristische Gestalt verleiht ihnen auch das Schreibinstrument.
Das wird bei der Schrift der Urkundenabschrift, deren Alphabet wir soeben behandelten,
noch nicht besonders deutlich sichtbar, denn sie ist mit einer verhältnismäßig breit
zugeschnittenen Feder geschrieben; im Ganzen ist diese Schrift ziemlich dünn, obwohl
der Strichstärkenwechsel auf dem stark beschädigten Papyrus nicht so ausgeprägt in
122. Die Schrift eines römischen Briefes, 21-18 oder 17-14 0. Chr.
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