RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
Stilus beim Einritzen der Buchstaben in die Wachsschicht gestattete. Darum finden
wir auch in den ältesten lateinischen Papyri Schriften für den geläufigen Alltagsge¬
brauch vor, die erst bei näherer Untersuchung eine gewisse Verwandtschaft mit den
zuvor erwähnten römischen Kursivschriften verraten. Zugleich lassen sie jedoch eine
unzweifelhafte und viel deutlicher ausgeprägte Verwandtschaft mit der für besondere
Zwecke bestimmten formalen römischen Handschriftenschrift erkennen, die wir hier
bereits als klassische Kapitale kennengelernt haben. Die kalligraphische Vollkom¬
menheit dieser Sonderschrift war natürlich von der der Handschrift gewidmeten Zeit
und Sorgfalt abhängig, weshalb die klassische Kapitale dort, wo diese Bedigungen
fehlten, notwendig Einbußen an der Reinheit ihrer Form erlitt. Wir haben bereits im
vorigen Kapitel auf ein Beispiel einer derartigen fließend geschriebenen klassischen
Kapitale hingewiesen, die berühmte Handschrift Carmen de bello Actiaco aus der Zeit
zwischen 31 v. Chr. und 79 n. Chr., deren Schrift früher als Kursive eingestuft wurde
(Tafel XXIII b). Das war zwar auf Grund der nur sehr ungenauen Umzeichnung John
Hayters geschehen, aber auch die photographische Wiedergabe vermittelt den Ein¬
druck, daß die Kapitale dieser Handschrift infolge der flüchtigen Ausführung allzuviel
von ihrer Standardform eingebüßt hat. Wenngleich diese Schrift nicht mehr als Kursiv
eingeordnet werden kann, stellt sie doch ein eindrucksvolles Beispiel der Wandlung
dar, die die klassische Kapitale infolge der flüchtigen, kursiven Ausführung ihres Al¬
phabets durchmachte (Abb. 98). Vergegenwärtigen wir uns beispielsweise nur den
verhältnismäßig geringen Strichstärkenwechsel; er zeugt davon, daß diese Hand¬
schrift mit keiner so breiten Feder geschrieben wurde wie dies bei der formalen klas¬
sischen Kapitale der Fall war. Es fehlen hier somit jene charakteristischen fetten
Horizontalen, und dies bedeutet, daß auch die Schattenachse hier nicht dieselbe cha¬
rakteristische Schräglage einnahm. Auch manche einzelne Buchstaben haben eine
andere Form oder wenigstens einen anderen Duktus, z. B. das A mit Querstrich oder
die Variante des E in zwei Strichen oder die Variante des H mit verkürztem rechtem
Schaft, oder die völlig kursiv geschriebene zweite Variante des Qund die vierte des
S. Der Abschluß der vertikalen Züge erfolgt nicht durch quer verlaufende Striche
in Gestalt der Schreibserifen der klassischen Kapitale, sondern verschiedenartig, ent¬
weder durch den freien Auslauf des Strichs oder durch dessen Krümmung. All das
bedeutet, daß der Schreiber gewohnt war, mehr die flüssige Schrift als die formale
Kapitale zu gebrauchen, und daß demnach der Kursivcharakter der Schrift dieser
Handschrift hier entspringt. Darum kann sie nicht als Übergangsform zwischen der
Kapitale und der wirklichen römischen Kursiv gelten. Sie ist eine bloße unwillkürliche
Kursivmodifikation der klassischen Kapitale und steht in ihrer Art vereinzelt da; auf die
tatsächliche Entstehung einer Schrift für den Alltagsgebrauch, die sich parallel mit
der römischen klassischen Kapitale entwickelte, war sie ohne jeden Einfluß. Die ver¬
schiedenen mit der Kapitale verwandten römischen Kursivschriften sind also keines¬
wegs als Modifikationen der ersteren anzusprechen, sondern stellen vielmehr ihre
Entwicklungsparallelen, Analogien dar. Es scheint, daß diese kursiven Parallelen der
römischen klassischen Kapitale gleichzeitig mit dieser aus einem gemeinsamen, bisher nicht
näher bestimmten Prototyp entstanden sind, vielleicht ebenfalls irgendeiner Schreib¬
variante der Grundform der römischen Majuskel früher monumentaler Inschriften.
In der klassischen Epoche, aus der die ersten erhaltenen Dokumente der römischen
Kursivschrift auf Papyrus ebenso wie die ältesten Dokumente der auf demselben Ma-
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118. Pompejanisches Wachstäfielchen aus dem Jahre 58.
11 g. Wandinschrift aus der £eit vor yg. Pompeji.