DIE SCHÖNE SCHRIFT IN DER ENTWICKLUNG
DES LATEINISCHEN ALPHABETS
I
EINFÜHRUNG
DIE SCHÖNHEIT der Schrift ist kein absoluter Wert, sondern subjektiv und ver¬
änderlich. Nicht jede Schriftform gilt allgemein oder dauernd als schön. Das ist ganz
natürlich, denn auch die Kriterien sind subjektiv und von den Wandlungen des Stil¬
gefühls oder Zeitgeschmacks abhängig. Nichtsdestoweniger gibt es viele Schriftarten,
deren überpersönliche und überzeitliche Schönheit nicht angezweifelt werden kann,
auch wenn es sich um Formen handelt, deren Ursprung zeitlich oder geographisch
in weiter Ferne liegt. Einen hohen ästhetischen Genuß vermitteln uns beispielsweise
nach wie vor gewisse altrömische Schriften, aber wir können von der Schönheit der
Schriften so mancher uns völlig fremder Kulturbereiche ebenso stark beeindruckt sein.
Wir zögern nicht, verschiedene orientalische Schriften, die die meisten von uns gar
nicht lesen können, als schön zu bezeichnen. Das ist eine sehr bedeutsame Tatsache,
denn aus ihr geht hervor, daß eigentlich nur die Form und kein anderer Aspekt der
Schrift von diesem Blickpunkt her für uns entscheidend ist. Und da es sich hierbei um
einen visuellen, sinnlichen Genuß handelt, ist es demnach das Künstlerische dieser
Form, sind es ihre spezifischen bildkünstlerischen Werte, die wir an der Schrift so
schätzen. Daß eine Wertung der Schrift nach solchen künstlerischen Maßstäben durch¬
aus berechtigt ist, kann auch mit der engen Beziehung der Schrift und Schriftkunst
zu den bildenden Künsten begründet werden. Schon in den ersten gemalten Äußerun¬
gen der Höhlenbewohner erblickt man ja gewöhnlich erste Formen eines Festhaltens
menschlicher Gedanken, das heißt einer Schrift im weiteren Sinne. Ebenso ist es,
soweit es sich um ähnliche Äußerungen des primitiven Menschen handelt, oft schwie-
rig, die Grenzen zwischen einer derartigen Urform der schriftlichen Aussage und einem
schöpferischen Kunstwerk zu ziehen. Als eine Art ‘schriftliche’ Mitteilungen werden
in Werken, die sich mit der Schrift befassen, häufig die berühmten Höhlenmalereien
in Altamira und anderen Fundstätten der altsteinzeitlichen Kultur in Spanien und
Südwestfrankreich bezeichnet. Persönlich kann ich jedoch einer derartigen Deutung
so großartiger Äußerungen eines rein malerischen Willens nicht zustimmen. Es scheint
mir eine viel zu verschwenderische Verausgabung von Talent und hochqualifizierten
bildkünstlerischen Mitteln zu sein, um mitzuteilen, was sich mit einer weniger voll¬
kommenen malerischen Form sagen ließe. Wie dem auch sei, die Grenzlinie zwischen
der schöpferischen Malerei und der Schrift ist in solchen Fällen oft viel zu unbestimmt
und elastisch, als daß man mit absoluter Sicherheit sagen könnte, wo die Malerei
endet und die Schrift anfangt. Inhalt eines Kunstwerks ist oft ebenfalls die Mitteilung
eines Gedankens und manchmal einer ganzen Begebenheit, wobei die Anwesenheit
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