hj. Kursiv pompejanischer Wachstäfelchen aus der Zeit vor y g
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ÄLTERE RÖMISCHE KURSIV
standardisierte Kursiv derpompejanischen Wachstäfelchen von ähnlichen frühen Alphabeten
unterschieden werden. Es ist dies gleichfalls eine mit einer scharfen Spitze eingeritzte
Schrift, und dieser Technik entsprach natürlich dieselbe Schriftkonstruktion, die in
isolierte gerade Striche zerlegt wird, aber nicht mehr in vertikale, sondern in kursiv
schräggeneigte. Besonders bezeichend ist, daß die Schrift auf diesen Täfelchen nach
links und nicht nach rechts geneigt ist, wie wir es entsprechend unseren heutigen
Gewohnheiten für natürlicher halten würden. Bedeutsamer ist jedoch die Tatsache,
daß manche Buchstaben hier in einer völlig neuen und bereits wirklich kursiven Form
auftreten. Eine derartige Form hat in diesem Alphabet (Abb. 117) vor allem das B,
dessen beide Bäuche sich zu einem schrägliegenden und fast geradlinigen Strich ver¬
wandelt haben, der höchstens zu einer flachen Wellenlinie verbogen wird, während
der ursprüngliche Schaft wiederum zu einer angedeuteten oder öfter ausgeprägt ge¬
rundeten Krümmung - einem Bauch - wurde, der ungefähr unserer heutigen Minus¬
kel d ähnelt. Im Grunde zur selben Form des heutigen Buchstabens unseres kleinen
Alphabets entwickelte sich das D, um sich vielleicht nur durch die stärkere Krüm¬
mung des rechten Strichs vom В zu unterscheiden, sofern es überhaupt zu unter¬
scheiden ist. Auch der Buchstabe H beginnt infolge der Verkürzung des rechten Schaftes
seine heutige Minuskelform anzunehmen, und dieser nähert sich auch die vereinfachte
Zeichnung des Q. In Minuskelform stabilisieren sich schließlich die Buchstaben V und
Y. Bauch und Fuß des R verwandeln sich schon für immer in eine sehr seichte schräge
Wellenlinie. Im übrigen zeigt die Schrift dieses Typus eine bezeichnende Tendenz
zu einer leichten Krümmung aller Striche und damit manchmal auch zu einer sehr
auffallenden Dehnung der Rundungen des С und G über das Majuskelsystem hinaus.
In gleicher Richtung wird, abgesehen von den zweiten Strichen des В und R, auch
das I und der erste Strich des M und nach unten wiederum der Rest des Çh-Schweifes
gezogen. Über und unter die Zeile wird die Zeichnung des Buchstabens S verlängert.
Einen Hinweis verdient schließlich noch das N in seiner ursprünglichen Konstruktion,
so daß die Vermutung nahe hegt, daß seine Kursivform in Gestalt dreier vertikaler
Striche nicht von Dauer war.
Verschiedene Buchstaben dieses Alphabets kommen natürlich in sehr zahlreichen
handschriftlichen Varianten vor, aber im Ganzen zeigt die Schrift der Mehrzahl der
pompejanischen Wachstäfelchen doch einen weitgehend gemeinsamen Charakter, der
im Wesentlichen bei den ältesten Exemplaren etwa aus dem Jahre 15 unserer Ära
derselbe ist wie bei ähnlichen Täfelchen aus den Jahren 57-59 n. Chr. (Abb. 118). Es
ist ganz natürlich, daß diese Kursivform nicht nur zur Beschriftung der Wachstäfel¬
chen diente, und darum begegnen wir ihr auch in Wandinschriften, z. B. einer solchen
aus Pompeji, die vor 79 n. Chr. entstanden (Abb. 119) und vor allem durch die schön
gedehnten Rundungen des G und S und den verlängerten ersten Strich des M be¬
merkenswert ist. Man sieht, daß auch dieser Schrift manchmal ein gewisser Reiz nicht
abgesprochen werden kann.
Wie hier bereits vorausgeschickt wurde, dürfen wir die Vermutung aussprechen,
daß es nicht immer notwendig nur die Grundkonstruktion der lateinischen Majuskel
war, die als Ausgangsform für kursive Modifikationen diente. Genauso gut konnte das
in der weiteren Entwicklung auch ihre kalligraphische formale Variante sein, die beim
Schreiben mit der Feder auf Papyrus in Betracht kam. Die Schreibfeder ermöglichte
einen viel freieren und flüssigeren und daher kursiveren Schreibvorgang, als ihn der
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