RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
einer Mauer in Pompeji irgendwann vor dem Jahre у9 unserer Zeitrechnung einge¬
ritzt wurde, als Beispiel reproduzieren.
Größeren Ansprüchen in Bezug auf die Schnelligkeit des Schreibverfahrens konnte
diese halbkursive Majuskel allerdings nicht genügen, weshalb es notwendig wurde,
durch weitere und einschneidendere Eingriffe die flüssige Wiedergabe der Grund¬
konstruktion der lateinischen Majuskel noch viel mehr als bisher zu erleichtern. Das
geschah auf eine etwas kuriose Weise durch eine Form, die wir vielleicht als frühe
Majuskelkursiv bezeichnen können, denn wir dürfen voraussetzen, daß die älteste Form
einer bereits echten römischen Kursiv etwa so beschaffen war, zumindest was die mit
einer scharfen Spitze in den Mörtel und in Wachstafeln eingeritzten Texte betrifft.
Bei einigen laut Diehl ältesten pompejanischen Kursivinschriften etwa aus der Zeit
Sullas, also aus der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr. (Abb. 115), wurde eine
höhere Schnelligkeit bei gleicher Technik des Schreibens erzielt, indem man die Kon¬
struktion des Monumentalalphabets in isolierte Striche auflöste. Dieser Zerfall der
Schriftkonstruktion mußte aber anfänglich keineswegs notwendig zu einer bedeuten¬
deren Veränderung des Schriftbildes führen, umso mehr als er nicht immer konsequent
war. Im Prinzip handelte es sich zu diesem Zeitpunkt auch um keine Neuheit, denn
einer in ihre Bestandteile aufgelösten Schriftkonstruktion begegnen wir bereits viel
früher bei den in Metallplatten eingehämmerten Inschriften wie z. B. der Wiener
Bronzeplatte mit einem Senatsbeschluß über den Bacchuskult aus dem Jahre 186
v. Chr. Das Neue an diesem Alphabet einer frühen Majuskelkursiv aus der Zeit Sullas
(Abb. 116) ist jedoch nicht nur der Zerfall der Schriftkonstruktion, sondern die gleich¬
zeitige Vertikalisierung mancher schräger und runder Striche, die auf die erwähnte
Weise isoliert werden. So kommt zum Beispiel die typische Kursivform des Buch¬
stabens M zustande, dessen monumentale Konstruktion in eine Gruppe von vier iso¬
lierten Vertikalstrichen zerfällt, ähnlich wie die ältere Form des E, das durch zwei
Vertikalen angedeutet wurde. Seltener entsteht die analoge Form des Buchstabens N
in Gestalt dreier Senkrechter. Mit dem I und der alten Kursivform des F in Gestalt
einer längeren und einer kürzeren Vertikalen enthält ein solches Kursivalphabet ins¬
gesamt bereits fünf ausschließlich aus isolierten Senkrechten zusammengesetzte Buch¬
staben. Die vertikale Gesamtwirkung wird darüber hinaus nicht nur durch die Ten¬
denz unterstützt, die abgetrennten Querbalken der Buchstaben L und Y, sondern
auch die isolierten Rundungen des C, D, G, S und sogar auch der Bäuche des B, die
zu einer seichten Wellenlinie werden, aufzurichten. Desgleichen wird wenigstens einer
der Bestandteile der auseinandergebrochenen Kreislinien des О und Q aufgerichtet,
ebenso wie dies in der Regel beim rechten Schenkel des V der Fall ist. Der abge¬
trennte Bauch des Buchstabens P wird zu einem kurzen Schrägstrich, dessen Neigung
zur Vertikalen oft weniger als 450 beträgt. Eine interessante Form erhält der Buch¬
stabe R, dessen vom Schaft getrennter Bauch und Fuß gewöhnlich eine sehr flache
und steile Wellenlinie bildet. So bleiben im ganzen Alphabet schließlich nur zwei
horizontale Striche übrig, die Querbalken des H und T, sofern wir allerdings die bei¬
den Querbalken des Z nicht in Betracht ziehen, denn dieser Buchstabe kommt so
selten vor, daß er in dieser Hinsicht praktisch nicht berücksichtigt werden muß.
Schon in dieser vertikalisierten Frühform der älteren römischen Kursiv finden wir
Anzeichen weiterer Möglichkeiten einer kursiven Abänderung einzelner Buchstaben
vor, und durch diese Deformationen kann die bereits entfaltete und verhältnismäßig
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116. Frühe römische Majuskelkursiv, erste Hälfte des 1. Jahrhunderts v. Chr.
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