KAPITEL IV. RÖMISCHE KURSIVSCHRIFTEN
DEN ALTRÖMISCHEN Kursivschriften, auf die wir in den vorangehenden Ka¬
piteln wiederholt Bezug nehmen mußten, wird in der Regel eine erstrangige Bedeu¬
tung in der Entwicklung unserer Schrift beigemessen, aber in den geläufigen Hand¬
büchern des Schriftschaffens werden sie gewöhnlich mit einer bestenfalls nur ganz
allgemeinen Erwähnung abgetan. Das ist begreiflich, denn das Studium dieser Schrif¬
ten hat tatsächlich so wenig Verlockendes, daß es besser ist, ihm auszuweichen. Auch
in unser Programm fügt es sich scheinbar nicht ein, weil man kaum eine dieser Schrif¬
ten, nach den erhaltenen Beispielen zu urteilen und gemessen mit streng ästhetischen
Maßstäben, für ausgesprochen schön halten kann. Und dennoch müssen wir, sofern
wir uns von ihrem angeblichen Einfluß auf die weitere Entwicklung der handschrift¬
lichen Lateinschrift überzeugen wollen, uns mit diesem schwierigen Stoff auseinander¬
setzen, ob wir nun wollen oder nicht. Wir dürfen uns auch weder von der Vielzahl der
kursiven Formen noch davon abschrecken lassen, daß die kursiven Texte unleserlich
sind, obwohl beides auf den ersten Blick ein unüberwindliches Hindernis zu sein
scheint. Um eine Lesung der lateinischen Kursivtexte aus diesem Zeitabschnitt werden
wir uns hier natürlich nicht bemühen, denn wir sind für diesen Aspekt des Schrift¬
studiums glücklicherweise nicht zuständig, und wir können uns übrigens damit trösten,
daß auch spezialisierte Fachwissenschaftler bei der Lösung der damit verbundenen
Probleme nicht selten in Verlegenheit sind.
Lateinische kursive Denkmäler des Altertums haben sich zwar in ziemlich großer
Menge erhalten, aber doch beiweitem nicht soviel, wie diese Art von Schriftstücken
erwarten ließe. Doch auch das ist erklärlich, denn die paläographischen Materialien
sind nicht so widerstandsfähig, um den zerstörenden Einflüssen der Zeit so lange trotzen
zu können; übrigens maß man den kursiven, geläufigen Schriftstücken kaum einen
solchen Wert bei, daß sich die besondere Mühe ihrer Erhaltung für die Nachwelt
gelohnt hätte. Damit ist auch der Umstand erklärt, daß unter derartigen Denkmälern
des Altertums lange Zeit nur eine ganz geringe Minderheit Urkundendenkmäler waren,
verglichen mit den verhältnismäßig zahlreichen Denkmälern auf epigraphischen Stof¬
fen. Die Mehrzahl dieser Dokumente der altrömischen Kursiv hat sich in Form ver¬
schiedener mit Kohle geschriebener, mit Kalk u. a. gemalter oder öfter mit irgend¬
einem spitzen Gegenstand in den Kalkbewurf der Mauern entweder vor dessen Erhärten
oder bereits auf dem trockenen Mörtel {graffiti) eingeritzter Inschriften erhalten,
weiter in Form verschiedener Texte, die auf gleiche Weise mit einem Griffel {stilus)
in Wachstafeln {tabulae ceratae) oder in allerlei keramische Erzeugnisse, Gefäße, Ziegel
und kleine Keramikscherben {ostraka) eingegraben wurden. Im Laufe der Zeit ent¬
deckte man auch ziemlich viele derartige Texte auf Papyrusfragmenten. Hauptfund¬
ort dieser Denkmäler sind Ägypten, dessen trockenes Klima den Papyrus vor dem
Zerfall bewahrte, und Pompeji, wo die Zahl erhaltener Schriftstücke dieser Gattung
andere Fundorte im Herzland des römischen Imperiums weit in den Schatten stellt.
Einiges wurde zwar auch in Herculaneum und in den Katakomben Roms gefunden,
aber von größerer Bedeutung war in dieser Hinsicht neben Ägypten und Pompeji nur
die Provinz Dakien, das heutige Siebenbürgen, wo man eine ganze Reihe paläogra-
phisch außerordentlich wertvoller Wachstäfelchen des 2. Jahrhunderts unserer Ära
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ÄLTERE RÖMISCHE KURSIV
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verschiedenster Art von Dichterzitaten und Liebessprüchen neben Urkunden, Buch¬
haltungseintragungen, Verträgen, Anzeigen von Hausvermietungen, Käufen und Ver¬
lusten bis zu satirischen Notizen persönlichen Charakters.
den Sammelnamen scriptura cursiva erhalten, in der Paläographie aber werden dieselben
Schriften aus älterer Zeit genauer ÄLTERE RÖMISCHE KURSIV oder capitalis
cursiva oder gar römische Majuskelkursiv genannt. Alle diese Bezeichnungen sind offenbar
viel zu allgemein, denn sie scheinen ein überaus buntes Gemisch der verschiedensten
Formen zu umfassen, wie man aus unserer Übersicht kursiver Varianten der einzelnen
auf den pompejanischen Wänden und Wachstafeln erhaltenen Schriften (Abb. 112)
schließen könnte. Was sie untereinander doch noch verbindet, ist vorgeblich ihre
engere oder weitere Beziehung zu den lateinischen Majuskelschriften. Eine Abkunft
der lateinischen Kursiv von der Majuskel kann allerdings als wahrscheinlich ange¬
nommen werden, denn in ältesten Zeiten war es zweifellos die archaische Lateinschrift,
die die nicht allzu großen Ansprüche schriftlicher Äußerungen aller Art sicher zur
Genüge befriedigte und mit ihrem zeichnerischen Charakter mehr kursiven Vermer¬
ken als den repräsentativen Inschriften entsprach. Erst mit dem steigenden Kultur¬
niveau der Römer, als sich eine monumentale Sonderform zu entwickeln begann,