RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
Kapitale als Schrift für den gesamten Buchtext so spät begegnen, könne demnach nur
als ein Überleben des graphischen Stils der Frühzeit in derartigen Sonderfällen, wie
es beispielsweise die Ehrung eines nationalen Dichters ist, erklärt werden (Friedrich).
Daraus folgerte man, daß die Anfänge der quadratischen Kapitale weit zurücklägen,
vielleicht gar am Anfang unserer Zeitrechnung. Ihre stabilisierte Form habe sich nicht
mehr verändert, so daß man die Handschriften chronologisch nur auf Grund anderer
Merkmale wie Initialen und Interpunktionen einordnen könne. Aber war die quadra¬
tische Kapitale dieser späten Handschriften wirklich so stabilisiert wie man glaubte?
Ist beispielsweise die Schrift der vatikanischen und der Berliner Fragmente identisch
mit jener des Vergilius Sangallensis? Vergleichen wir die beiden Schriften, um das
feststellen zu können.
Die Schrift, mit der der Vergilius Berolinensis und der Vergilius Augusteus (einst
so benannt auf Grund der irrtümlichen Vermutung, daß diese Abschrift dem Augustus
gewidmet war) geschrieben wurden, kann mit der Zusammensetzung ihres Alphabets
(Abb. 110) auch auf den ersten Blick nicht den Eindruck einer wirklich handschrift¬
lichen, die Gesetze des Schreibduktus befolgenden Schrift hervorrufen. Es ist ausge¬
schlossen, daß diese Schrift flüssig geschrieben wurde, wovon wir uns bei der Beschaf¬
fung ihres Alphabets überzeugt haben. Völlig evident ist das Gegenteil, nämlich daß
es sich um eine gezeichnete Schrift handelte, denn mit einer Technik des Schreibens
kann nur der kleinere Teil der Buchstaben des Alphabets ausgeführt werden. Vor
allem wird hier keine einheitliche Schattenachse eingehalten. Denn während die
senkrechten Schäfte meist fett sind, bleiben die Schäfte der Buchstaben N, R und Y
dünn. Nach einer schrägen Schattenachse werden sodann die nach rechts unten ver¬
laufenden Striche traktiert, aber beim Z ist das Gegenteil der Fall. Auch bei den
Rundungen stellen wir eine uneinheitliche Schattierung fest; beim G, О und Q_richtet
sie sich nach einer senkrechten Achse, während die Rundungen des С und D und die
Bäuche des В, P und R nach einer schrägen Achse schattiert sind. Wie man sieht,
müßte der Schreiber die Kante seiner breit zugeschnittenen Feder unausgesetzt nach
einer anderen Richtung neigen, was keineswegs dem Schreibverfahren entspräche.
Mit der bloßen Schreibtechnik kann man übrigens auch keinen so scharfen Strich¬
stärkewechsel erzielen. Als völlig der Technik des Schreibens fremd muß die Art
des Abschlusses der dünnen Schäfte des A, N, R, X und Y in Gestalt dreieckiger
Serifen bezeichnet werden, während die fetten Schäfte durch Haarstriche ohne Anlauf
abgeschlossen sind. Charakteristisch für dieses Alphabet ist die Form des A ohne
Querstrich, die in den älteren römischen Schreibschriften überwiegt.
Durch den Querstrich des Buchstabens A unterscheidet sich das Alphabet des Ver¬
gilius Sangallensis (Abb. in) auf den ersten Blick vom vorgenannten, aber dieses
Merkmal ist nicht das einzige. In seiner Gesamtheit ist bei dem zweiten Alphabet der
Eindruck einer nicht geschriebenen Schrift noch stärker, obwohl sie scheinbar nach
einer einheitlicheren Schattenachse traktiert wird. Die kuriosen Formen der Buch¬
staben R und Y kommen nicht mehr vor, auch die Abschlußform der Schäfte ist
einheitlicher, aber auch diese Schrift kann man nicht schreiben, ohne sich dem Schrei¬
ben nicht gemäßer Hilfsmittel zu bedienen. Unser Beispiel einer Textseite (Tafel
XXXIII) kann übrigens ausgezeichnet Zeugenschaft darüber ablegen, daß es sich
hier wirklich nicht um eine reine Schreibtechnik handelt. In den oberen Zeilen finden
sich nämlich zahlreiche Buchstaben, die die Schattenstriche nur in den Umrissen
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CAPITALIS Q.UADRATA
erhalten zeigen, während das Innere durch die unsanfte Behandlung der Handschrift
ausgelöscht wurde. Das bedeutet, daß die Buchstaben auf kombinierte Weise zustande
kamen, indem zunächst mit einer nicht zugeschnittenen spitzen Feder die Haarstriche
und die Umrißlinien der Schattenstriche gezogen wurden. Die letzteren füllte man
dann - vielleicht mit dem Pinsel - nachträglich aus. Damit können wir uns auch den
scharfen Kontrast der Strichstärke erklären, die Form der haardünnen und der drei¬
eckigen Serifen sowie andere einer geschriebenen Schrift fremde Einzelheiten beider
Beispiele der quadratischen Kapitale. Diese kombinierte Arbeitsweise konnte aller¬
dings nur dann angewandt werden, wenn es die Größe des Schriftbildes gestattete.
Und bei den genannten Handschriften entsprachen die Schriftmaße zweifellos dieser
Technik, denn z. B. beim Vergilius Augusteus beträgt die Schrifthöhe durchschnittlich
etwa 9 mm. Beim Vergleich einzelner Buchstaben beider Alphabete ergibt sich dann
ganz eindeutig, daß die beiden Schriften in mancher Hinsicht recht verschieden sind
und daß ihre ganze Verwandtschaft nur in den annähernd quadratischen Maßver¬
hältnissen des Schriftbildes und im scharfen Kontrast der sehr feinen Haar- und der
sehr fetten Schattenstriche besteht. Offensichtlich ist desgleichen, daß es sich in beiden
Fällen um den Versuch handelt, in der Handschrift den feierlichen Charakter monu¬
mentaler Inschriften nachzuahmen. Wir können feststellen, daß diese Wirkung tat¬
sächlich erzielt wurde, indem die großformatige und dunkle Schrift in ausgeglichenen
Zeilen die großen weißen Pergamentflächen dieser Luxushandschriften bedeckt.
Die Sonderstellung dieser Dokumente der sog. quadratischen Kapitale beweist auch,
daß nach dem 5. Jahrhundert eine lange Zeit keine Handschriften mehr entstanden,
in denen diese Schrift für den Text verwendet wurde. Bei Titelblättern und Kapitel¬
überschriften blieb eine Schrift dieses Typus jedoch bis zum Ausgang der romanischen
Epoche in Gebrauch. Obwohl die quadratische Kapitale inzwischen verschiedenen
zeitlich bedingten Einflüssen unterlag, kommt sie dennoch immer wieder in über¬
raschend reiner Form vor und steht der klassischen römischen Monumentalschrift
weit näher als ihre ersten bekannten Beispiele in den strittigen Vergilhandschriften
des 4.-5. Jahrhunderts. Sie wurde allerdings auch das ganze Frühmittelalter hindurch
in der eben beschriebenen kombinierten Schreib-Zeichentechnik ausgeführt und wies
gewöhnlich ein noch größeres Schriftbild auf. Als die Gotik vorüber war, entdeckten
die Humanisten und Renaissancekünstler gewisse graphische Werte der Schrift dieses
Typus wieder und führten sie einer weit größeren zeichnerischen Vollendung entgegen,
als sie die quadratische Kapitale am Ausgang des Altertums und im Frühmittelalter
erreicht hatte. Mit der Renaissance beginnt sodann ihre bewunderswerte Entwicklung
zu unserem heutigen großen Alphabet der Buchdruckschrift, was man sich auch jetzt
vergegenwärtigen muß, da wir gerade ihre Bedeutungslosigkeit in den Anfängen der
Entwicklung der lateinischen Handschriftenschrift überhaupt konstatiert haben. Da¬
mit kommen wir zum Abschluß der Beschreibung nicht nur der quadratischen Kapi¬
tale allein, sondern aller formalen römischen Buchschriften, von denen viele keines¬
wegs ausschließlich zum Schreiben von Buchhandschriften dienten, wie hier bereits
mehrmals festgestellt wurde. Man verwendete sie auch für Urkunden, also in einer
Sphäre, die eigentlich den Kursivschriften Vorbehalten war. Die altrömische Form der
letzteren haben wir aus Gründen einer besseren Übersichtlichkeit im folgenden Ka¬
pitel zusammengefaßt.
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