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hi. Römische Quadratkapitale, 4-5. Jahrhundert.
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CAPITALIS QUADRATA
Monumentalschrift darstellt. Wenngleich die quadratische Kapitale also keinerlei Ein¬
fluß auf die Entwicklung der ältesten uns bekannten Formen der lateinischen Buch¬
schrift haben konnte und in dieser Hinsicht völlig bedeutungslos ist, überrascht auf
der anderen Seite ihre unzweifelhafte und große Bedeutung für die weitere Ent¬
wicklung der lateinischen Majuskel seit dem Beginn des Mittelalters, weshalb wir uns
gezwungen sehen, ihr gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
Von den mit dieser quadratischen Kapitale geschriebenen Handschriften des Alter¬
tums sind nur einige wenige Pergamentfragmente erhalten, deren Datierung die For¬
scher schon lange in Verlegenheit bringt. Auf Grund gewisser irrtümlicher paläogra-
phischer Folgerungen setzte man ihre Entstehung weit in die Vergangenheit an, manch¬
mal sogar ins i .Jahrhundert, aber später wurde diese Zeitbestimmung stark korrigiert.
Vielleicht am weitesten ging hierin Walter de Gray Birch, der die Fragmente 1872
ins 6. Jahrhundert datierte. Obwohl es scheint, daß dieser Forscher der Wahrheit
am nächsten kam, hält man heute dennoch das 4.-5. Jahrhundert für das äußerste
chronologische Limit der Entstehung dieser strittigen Handschriften. Wenn die qua¬
dratische Kapitale tatsächlich eine graphisch-zeichnerische Imitation der monumen¬
talen scriptura quadrata war, dann ist es ganz natürlich, daß sie gleichzeitige In¬
schriften nachahmte, deren Schrift, wie wir gesehen haben, zu dieser Zeit bereits
gewisse Merkmale eines fortschreitenden Verfalls aufwies. Wir wissen zum Beispiel,
daß damals der Strichstärkenwechsel intensiver wurde und daß auch der Proportions¬
rhythmus der schmalen und breiten Buchstaben an Ausgeprägtheit verlor und Ten¬
denzen zur Uniformität entwickelte. All das tritt selbstverständlich auch bei der Buch¬
replik der Schrift der späten monumentalen Inschriften in Erscheinung, obwohl diese
Verfallszeichen in der Handschrift nicht so ungünstig wirken. Es ist schwer, sich
darüber ein Urteil zu bilden, denn es gibt nur sehr wenig Texte, die mit einer quadra¬
tischen Kapitale geschrieben sind, und auch die gewagtesten Schätzungen zögern
heute, sie früher zu datieren als ins 4. Jahrhundert. Es handelt sich um einige Blätter
der Vergilschen Geórgica, die teilweise als Vergilius Augusteus in den Vatikansamm¬
lungen und als Vergilius Berolinensis in der Berliner Königlichen Bibliothek verwahrt
werden (Tafel XXXII). Bezeichnend ist, daß Vergil der Autor nicht nur auch der
zweiten ältesten Handschrift aus etwa derselben Zeit oder erst dem 5. Jahrhundert,
eines Aeneisfragments in der Bibliothek von St. Gallen — des Vergilius Sangallensis
(Tafel XXXIII) — ist, sondern darüber hinaus eines weiteren Fragments aus Oxyr-
hynchos in Ägypten sowie des Palimpsests von Verona, beider gleichfalls etwa aus dem
4-~5- Jahrhundert. Daraus schloß man, daß diese Kapitale damals nur noch für Texte
von ganz außerordentlichem literarischem Wert verwendet wurde, die einer besonders
großzügigen kalligraphischen Ausführung würdig waren. Die hohen kalligraphischen
Qualitäten der quadratischen Kapitale seien ein Beweis dafür, daß ihre Entwicklung
im 4. Jahrhundert bereits vollendet war, eine Entwicklung, die angeblich eine längere
Zeit gebraucht habe, um es zu einer so vollkommenen Schriftform zu bringen. Es
schien nicht wahrscheinlich, daß diese große Schrift so lange nach dem klassischen
Zeitalter der römischen Inschriftenkunst erstmalig verwendet wurde. Aus analogen
Fällen in der Geschichte der Schrift schloß man, daß die durchschnittliche Buch¬
produktion von der so wenig zeit- und materialsparenden quadratischen Kapitale zu
weniger festlichen, graphisch weniger anspruchsvollen und zu dieser Zeit bereits ge¬
läufigen Schriftformen übergegangen sei. Die Tatsache, daß wir der quadratischen
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