RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
unziale der Handschrift De Trinitate von der Schrift der Epitomae Livii unterscheiden,
auch in der frühen Unziale eine andere Form (Abb. 105). Das nächste Kapitel wird
zeigen, daß die Form dieser nicht übereinstimmenden Buchstaben im Alphabet der
jüngeren römischen Kursiv ihre Analogien hat, so daß man eine genetische Abstam¬
mung der Halbunziale von etwaigen Unzialvorfahren mit Recht ablehnen kann. Cha¬
rakteristisch für die Schrift der De-Trinitate-Handschrift ist sodann der keulenartige
Abschluß der verlängerten Schäfte der Buchstaben b, d, h, l, der ein typisches Merkmal
der Halbunziale bleiben wird. Der unzialenhafte Eindruck, den die mit einer Halb¬
unziale geschriebenen besseren Handschriften hervorrufen, ist allerdings auf die Kalli¬
graphie der Schreiber zurückzuführen, die beide Formen verwendeten. Diesem Um¬
stand kann vielleicht auch die ständige Anwesenheit der Majuskelform des Buchstabens
N, die gleichfalls als typisches Kennzeichen der Halbunziale gilt, zugeschrieben wer¬
den. Im Verlauf des 6. Jahrhunderts erhält jedoch auch dieser Buchstabe ausnahms¬
weise in manchen Handschriften Minuskelform; in verschiedenen Handschriften aus
den beiden folgenden Jahrhunderten werden dagegen wieder andere Buchstaben, z. B.
das/und g, weiterhin in Majuskelform geschrieben. Außer derartigen Ausnahmen war
die Halbunziale im übrigen zu dieser Zeit bereits in ihrem Alphabet stabilisiert und
verbreitete sich schnell über ganz Westeuropa, um in den neu entstehenden Zentren
der christlichen Zivilisation, in verschiedenen Kloster- und Episkopatsskriptorien ver¬
vollkommnet zu werden. Dort hielt man an der Tradition auch der übrigen römischen
formalen Buchschriften fest; neben der Halbunziale diente hier als Hauptschrift für
die Texte der luxuriös ausgestatteten liturgischen Kodizes die Unziale, die in dieser
Rolle die überlebte klassische Kapitale ersetzt. Diese war inzwischen zu einer Schrift
der Kapitelüberschriften geworden, und zwar zusammen mit einer anderen Majuskel¬
schrift, die in der Geschichte der Lateinschrift zum ersten Mal gleichzeitig mit oder
kurz vor der Halbunziale der De-Trinitate-Handschrift vorkommt.
Diese Schrift, die wir nach dem Vorbild Jean Mallons bis ans Ende unserer Über¬
sicht der römischen Buchschriften versetzt haben, ist jene strittige Majuskelform, mit
der in der klassischen Paläographie die Übersicht der lateinischen Handschriften¬
schriften überhaupt eingeleitet wurde. Man schrieb ihr eine erstrangige Bedeutung
in der Geschichte der handschriftlichen Lateinschrift zu, und deshalb wird sie auch in
allen Handbüchern der Schriftlehre bislang der Entwicklung der lateinischen Hand¬
schriftenschriften als Prototyp, aus dem sich nicht nur alle lateinischen Buch-, sondern
auch die Kursivschriften entwickelt haben sollen, vorangestellt. Diese Quadratkapitale
oder quadratische Kapitale, CAPITALIS QUADRATA oder capitalis elegans, ele¬
gante Kapitale, stand jedoch keineswegs am Anfang dieser Entwicklung und konnte
es auch nicht, und sie war übrigens nicht einmal die erste Schrift der Gattung Kapitale,
die es in der Geschichte der Lateinschrift gegeben hat. Wir werden uns auch davon
überzeugen, daß sie ihrem Wesen nach eigentlich überhaupt keine Handschriften¬
schrift ist. Jean Mallon hält sie für ein bloßes und sehr spätes Derivat der römischen
klassischen Kapitale, eine Abart, die in den Anfängen der Kaiserzeit keinerlei Rolle
spielen konnte. Wir könnten jedoch noch weiter gehen und dieser Quadratkapitale
jede Verwandtschaft mit der geschriebenen klassischen Kapitale überhaupt abspre¬
chen, denn wir sind der Meinung, daß sie auch kein Derivat dieser typisch kalli¬
graphischen Schrift, sondern bloß eine späte zeichnerische Paraphrase der römischen
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110. Römische Quadratkapitale, 4.-5. Jahrhundert.
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