RÖMISCHE BUCHSCHRIFTEN
systems eingeordnet, das nur von den Schäften der Buchstaben H, L und kaum merk¬
lich vom zweiten Strich des D überragt wird. In der Richtung nach unten reichen
allerdings weiterhin die Schäfte der Buchstaben F, P, R und die Haarstriche des X
und Y sowie des besonders typischen Buchstaben G über sie hinaus. Auch der erste
Strich des M krümmt sich bereits oft ins Innere des Schriftbildes. All das läßt somit
das Alphabet der Unziale mit schräger Schattenachse schon so früh zu jener Standard¬
form gedeihen, in der sie Jahrhunderte überdauern sollte.
Ihre höchste kalligraphische Vollendung erreichte die Unziale jedoch auf dem Per¬
gament der reich ausgestatteten Kodizes der christlichen Kirchenliteratur, die, mit
den prähieronymischen Bibelübersetzungen des 4. Jahrhunderts beginnend, für die
Dauer weiterer Jahrhunderte zum nahezu ausschließlichen Gegenstand der lateini¬
schen Buchproduktion wurde. Wir könnten hier zahlreiche Handschriften dieser Zeit
nennen, die mit einer schönen Unziale mit schräger Schattenachse geschrieben sind,
aber die Klosterskriptorien hielten keineswegs an dieser Form als unveränderlichem
Standard fest. Schon im 6. Jahrhundert machte sich ein neues Schriftprinzip geltend,
das wir zum ersten Mal in der gemischten Schrift der Epitomae-Livii-Handschrift
aus dem 2.-3. Jahrhundert zur Kenntnis nahmen. Durch eine bloße Wendung des
Pergamentfolios oder mittels einer schräg zugeschnittenen Feder schufen sie eine weitere
Modifikation der Unziale: deren Form mit vertikaler Schattenachse. Doch diese Form ist
bereits typisch für die Kalligraphie der liturgischen Kodizes des Frühmittelalters,
weshalb wir ihre Analyse bis zur Übersicht der Schriften dieser Epoche verschieben.
Inzwischen machten sich jedoch im 4.-6. Jahrhundert neben der Unziale und der
ausklingenden klassischen Kapitale, die auch weiterhin als Hauptschriften für die
Texte der Buchhandschriften dienten, verschiedene gemischte Schriften von Minus¬
keltypus geltend, die der weiteren Entwicklung der lateinischen Buchschrift die Rich¬
tung weisen. Manchmal ist jedoch eine solche scriptura mixta der Unziale so verwandt,
daß wir uns fragen müssen, warum sie in manchen Handbüchern der Schriftlehre in
neue Kategorien mit neuen terminologischen Etiketten eingeordnet wird, wie z. B.
jene Schrift, mit der irgendwann im 6.-7. Jahrhundert die Pandekten der Florentiner
Laurenziana geschrieben wurden (Abb. 108). Was derartige Schriften wenigstens
ihrem äußeren Aussehen nach in der Regel von der höchstentwickelten ‘Majuskel’-
Unziale unterscheidet, pflegen nur die ausgeprägter über die Systemlinien hinaus¬
ragenden Striche oder ganzen Buchstaben zu sein. Dieses Merkmals wegen wird dann
eine solche gemischte Schrift oft als primitive Minuskel qualifiziert, mit einem Terminus,
von dem nunmehr selbst Jean Mallon abrückt, oder mit einer älteren Bezeichnung als
scriptura semiuncialis, eine Halbunziale, um die besonders offenkundigen Anklänge an
die Unziale hervorzuheben. Doch schon aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts
und vom Beginn des 6. sind Beispiele von Schriften erhalten, in denen außer einer
deutlichen Tendenz, das Bild verschiedener Buchstaben in ein vierliniges Minuskel¬
system einzuordnen, auch einige Buchstaben in typischer Minuskelform in Erschei¬
nung treten.
Eine solche Ordnung und Zusammensetzung des Alphabets ist somit charakteristisch
für eine weitere Schriftform der römischen Buchhandschriften, die in der traditionellen
Klassifizierung und Terminologie der lateinischen Paläographie als RÖMISCHE
HALBUNZIALE bezeichnet wird. Es ist dies ein weiteres Beispiel der Ungenauigkeit
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108. Römische Unziale, 6.-7. Jahrhundert.
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