übrigen italienischen Stämme noch länger an der Linksläufigkeit festhielten. Unter der Hand römi¬
scher Steinmetzen erlebten die schlichten griechischen Formen im Laufe von Jahrhunderten ihre Ent¬
wicklung zu höchster Vollendung. Der Gleichzug der griechischen Schrift wurde zum "Wechselzug
gewandelt, der allein schon den Buchstaben ein reicheres Leben verlieh. Die Endungen der Buch¬
stabenbalken erhielten Verstärkungen, so daß die aufsteigenden Schäfte Säulen mit Kapitell und
Fußplatte vergleichbar wurden. Jeder Buchstabe wurde zu einem Organismus von höchster Voll¬
endung ausgebildet.
Diese Schrift erhielt den Namen „Capitalis (vom lateinischen „caput": Kopf) oder „Kapitale".
Ihre federgeschriebene Form heißt „Capitalis Quadrata". Gleich der griechischen war sie noch nicht
in Worte und Sätze gegliedert. Ohne Unterbrechung reiht sich Buchstabe an Buchstabe. Im Höchst¬
fall trennte ein winziges Zeichen die Worte, ohne daß der Abstand zwischen den Buchstaben ver¬
größert wurde. An den Inschriften der Grabmäler und Triumphbogen tritt uns die Kapital in ihrer
Monumentalform entgegen (Mo¬
numentalschrift: für die Dauer
mit dem Streben nach möglich¬
ster Vollkommenheit geschaffen,
im GegensatzzurVerkehrsschrift).
Zur Zeit der ersten römischen
Kaiser erlebte sie ihre Blütezeit.
Einen Höhepunkt ihrer Entwick¬
lung bezeichnet die Tafel an der
Trajanssäule in Rom (etwa 114
u. Z.). Von da an blieb sie bis
in unsere Zeit nahezu unver¬
ändert im Gebrauch und wurde
der Ausgangspunkt für eine viel¬
fältige Entwicklung der Schrift¬
formen, die sich in der Fraktur
schließlich so weit von ihr ent¬
fernte, daß man diese geradezu
als Gegenpol der Kapitale be¬
zeichnen könnte.
Da sich die Capitalis Quadrata
nur langsam schreiben ließ, ent¬
wickelte sich neben ihr als Buch-
schrift die dem Federstrich besser
angepaßte Rustika, so genannt
wegen ihrer weniger edlen For¬
men (von rustico: bäurisch, derb).
Von Kaufleuten oder Privatper¬
sonen flüchtig in Wachs geritzt
oder auf Papyrus geschrieben,
rundeten sich die strengen For¬
men der Kapitale ab. Diese
Rundungen entsprachen dem
Stilgefühl der frühchristlichen
Zeit, die auch in der Baukunst den Rundbogen aus dem Orient aufgenommen hatte. Der Kreis wurde
das bestimmende Formelement der Unziale und Halbunziale (von uncia: Zoll). Beide Schriftarten
entwickelten sich im 3. und 4. Jahrhundert und hielten sich bis zum Ende des 8. Jahrhunderts
u. Z. Im Gefolge des jungen Christentums verbreiteten sie sich bis hinauf zu den angelsächsischen
und irischen Inseln und brachten dort eine besonders schöne, bewegtere Abart hervor, die irische
Unziale.
S E N AT VS
IMPCAESA
TRAIANO
Bild 2. Die Schrift auf der Trajanssäule in Rom (Ausschnitt)
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Bild 3. Rustika aus dem 5. Jahrb. u. Z.
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Bild 4. Römische Gebrauchsschriften
Mit dem Aufkommen der Unziale geht die Entwicklung der Schrift von den Steinschriften auf die
Buchschriften über. Die ältere Unziale ist noch Großbuchstaben- oder Majuskelschrift wie die Kapi¬
tale. Ihre Buchstaben halten sich im wesentlichen zwischen zwei Zeilenlinien.
Die Halbunziale dagegen übernimmt die in der römischen Kursive (schrägliegende Gebrauchsschrift)
ausgebildeten Ober- und Unterlängen und wird Übergang zur Minuskel(Kleinbuchstaben)-Schrift,
die sich zwischen 4 Zeilenlinien bewegt. Da das durchgehende Rundungsprinzip die Unzialbuchstaben
ziemlich gleichförmig und damit schwerer lesbar gemacht hatte, bedeutete die Anwendung der Ober-
und Unterlängen eine notwendige Orientierungsmaßnahme. Die Übersichtlichkeit wurde weiter er¬
höht durch die gleichzeitig einsetzende Worttrennung.
Die Zeilen der Kapitalschriften waren eng aneinandergerückt, das ganze Schriftfeld gleichmäßig mit
Buchstaben bedeckend. Nun rücken die Zeilen mehr und mehr auseinander, so daß die Buchseite
einen ausgesprochenen "Wechsel von Zeile und Schreibgrund zeigt. Während der Schreiber der Rustika
die Feder schräg ansetzte und beim Schreiben der Quadrata wahrhaft akrobatische Federkünste ange¬
wendet werden mußten, setzt das Schreibgerät bei den Unzialschriften meist gerade an. Die Schrift
erhält dadurch einen schweren, nachdrücklichen Zug.
Von den lebendig gebliebenen Schriften des später verfallenen Römischen Reiches führte die kursive
Gebrauchsschrift diesseits und jenseits der Alpen zu mannigfaltigen nationalen Umbildungen, die
mehr oder minder große Verfallserscheinungen zeigten. Die Gründung des Frankenreiches durch
Karl d. Gr. führte auch in der
Schrift eine Vereinheitlichung
herbei. Gegen Ende des 8. Jahr¬
hunderts entstand eine neue
Schrift, die durch den weitge¬
reisten Bischof Alkuin v. York
an den Hof Karl d. Gr. gebracht
worden sein soll. Durch die kai¬
serlichen Kanzleien wird die sog.
karolingische Minuskel über das
gesamte Abendland verbreitet.
Diese reine Kleinbuchstabenschrift
zeichnet sich durch leichte Schreib-
barkeit bei schrägem Federansatz
aus. Das Schriftbild ist licht und
klar. Wort- und Satztrennung
sind allgemein durchgeführt. Die
Entstehung der karolingischen
Minuskel war von bleibender
Bedeutung für die Schriftent¬
wicklung, ist sie doch die Ur¬
form der Kleinbuchstaben unserer
heutigen Antiqua. Bild 6. Halbunziale, 8. Jahrh. u. Z.
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Bild 5. Unzialschrift aus dem 4. Jahrh. u. Z.
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