Die Geschichte unserer Schrift
Das Vorhandensein der Schrift nehmen wir meist als selbstverständlich hin. Nur selten wird
uns bewußt, welch eine überragende Bedeutung sie hat. "Wir begegnen ihr ständig in Büchern und
Zeitungen, an Bauwerken und Anschlagsäulen, Fahrzeugen und Maschinen. Überall spricht sie zu
uns. Belehrung, Erbauung, Erheiterung, Aufklärung, "Werbung und Warnung werden uns durch sie
vermittelt. Oft mißbraucht zur Irreführung, hilft sie andererseits hohe und fortschrittliche Gedanken
verbreiten. Sie kann Helfer zum Guten wie zum Bösen sein. Die Menschheit hat mit der Anwendung
der Schrift einen ihrer entscheidendsten Schritte getan. Diese verbindet über Zeit und Raum hinweg
und hat die Verbreitung von Kultur und "Wissenschaft überhaupt erst ermöglicht.
Von großer Vielfalt sind die Zeichen, welche die Völker erfanden, um ihre Gedanken weiterzugeben.
Sie drückten ihnen den Stempel ihrer Geistesart auf. Dabei unterliegen die Schriftzeichen einer stän¬
digen Entwicklung. Über ihre Zweckgebundenheit hinaus wird die Schrift zum Spiegel ihrer Zeit.
Gleich der Architektur, mit der ihre Formen in ständigem Zusammenhang stehen, gibt sie ein Abbild
der geistigen Strömungen. Geschichtliche und wirtschaftliche Veränderungen finden in ihr ebenso Aus¬
druck wie das Aufkommen neuen Gedankengutes.
Aber auch die Persönlichkeit des Schreibers prägt sich dem Schriftbild auf. Sein Maß an Intelligenz,
Erfindungsreichtum und Ausgeglichenheit findet einen Niederschlag in seinem Schriftwerk. So ist es
möglich, aus der Handschrift Schlüsse auf Charaktereigenschaften, geistige Entwicklung und Gesund¬
heitszustand zu ziehen. Nicht nur in der eigentlichen Handschrift, selbst in den gebundensten Tech¬
niken des Schriftschaffens äußert sich noch die Persönlichkeit des Gestalters.
Eine vollständige Geschichte der Schrift wiederzugeben bleibt dem Fachgelehrten vorbehalten. Hier
soll nur versucht werden, den geschichtlichen Zusammenhang der heute noch bei uns gebräuchlichen
Schriften kurz aufzureißen. Ein solches "Wissen kann unserem Bemühen um die Schrift nur förderlich sein.
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Bild t. Griechische Schrift vom Grabmal des Dexileos
Unsere Schrift hat ihren Ursprung in der nordsemitischen Konsonantenschrift. Die Formen der ältesten
uns bekannten Zeichen auf dem Sarg des Königs Ahiram von Byblos sind bereits vollentwickelt und
deuten auf eine lange Entwicklung. Den Griechen wurde dieses Alphabet um das n. Jahrhundert
v. u. Z. durch das Handelsvolk der Phönizier übermittelt. Um es den Erfordernissen der griechischen
Sprache anzupassen, wurden überschüssige Konsonantenzeichen als Vokalzeichen verwendet. Durch
kleine Veränderungen gaben die Griechen den übernommenen Zeichen die Harmonie und Monumen¬
talität, die wir auf den erhaltengebliebenen Baudenkmälern und Vasen noch heute bewundern.
Dieses Alphabet brachten die Griechen, beherrschend im Mittelmeer geworden, auf italienischen Bo¬
den, wo es über die Etrusker auch zu den Lateinern gelangte. Diese Schrift lief zunächst von rechts nach
links. Bald jedoch gingen die Griechen über die Zwischenform der wechselnden Schriftrichtung, den
sog. „Ochsenschritt", zur Rechtsläufigkeit über. Die Lateiner folgten ihnen hierin bald, während die
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