Proportionsänderungen
Die Bildung der fetten und der mageren Form
In der Praxis ergibt sich oft die Notwendigkeit, die Schrift zu verstärken. Sei es, daß die gegebene
Schrift den Anforderungen größerer Entfernungen anzupassen ist, daß innerhalb des Textes einzelne
Wörter durch die fette Form hervorzuheben sind oder daß besonders kräftige Schlagzeilen zu zeichnen
sind. Umgekehrt kann die magere Form erwünscht sein für Textteile, die zurücktreten sollen oder um
die Gesamtwirkung zarter zu machen.
Wenn fette und magere Formen auf der gleichen Schriftfläche angewendet werden sollen, ist es unbe¬
dingt erforderlich, die ursprüngliche Buchstabenproportion zu erhalten. Da sich aber jede Änderung
sowohl auf das Verhältnis des Außenumrisses als auch der Balkenform und der Buchstabenausschnitte
auswirkt, ist dieses Ziel mit einem Schema nur annähernd zu erreichen. Besonders bei großen Unter¬
schieden wird der letzte Ausgleich doch noch gefühlsmäßig erfolgen müssen.
Bild 105. Die Verbreiterung
um die Fadenform
Bild 106. Die zweiseitig
angesetzte Verbreiterung
Bild 107. Die Verstärkung
unter Beibehaltung der Buchstabenhöhe
Damit die Proportion wenigstens annähernd erhalten bleibt, müssen die Buchstabenbalken allseitig
verbreitert werden. Die Mittelachse der Buchstaben bildet die sogenannte „Fadenform". An diese wäre
also die Breite nach allen Seiten im gewünschten Verhältnis anzusetzen (Bild 105). Dasselbe Resultat
wird einfacher durch Ansetzen der gesamten Verbreiterung in nur zwei Richtungen erreicht (Bild 106).
Bei ungleichschenkligen Schriftarten ist diese natürlich im Verhältnis der Schenkelbreiten vorzu¬
nehmen.
Der so veränderte Buchstabe wird nicht nur breiter, sondern auch höher. Dies kann nur erwünscht sein,
da ja das Ziel der Verstärkung ohnehin eine gesteigerte optische Wirkung ist. Bei mehrzeiligen Schilder¬
beschriftungen wird man in den meisten Fällen die hervorzuhebenden Textteile nicht nur verstärken,
sondern sie gleichzeitig entschieden größer halten. Man erzielt so eine kontrastreichere und damit
interessantere Wirkung. Also wird die verstärkte Schrift meist noch einer Vergrößerung bedürfen.
Wenn es gilt, eine geringfügige Verstärkung vorzunehmen, die Buchstabenhöhe aber gleichbleiben
soll, kann auch anders verfahren werden. Am ersten Schenkel setzt man die Verbreiterung rechts
an. Der zweite Schenkel wird dann zu beiden Seiten seiner Mittelachse verbreitert (Bild 107).
Dieses Verfahren verbreitert den Buchstaben nicht so sehr, als wenn die Verbreiterung an beiden
Schenkeln einseitig vorgenommen würde. Er fällt aber trotzdem noch etwas zu breit aus. Nach Mög¬
lichkeit ist also doch noch etwas der Höhe zuzusetzen, und zwar etwa die Hälfte der Verbreiterung.
Innerhalb einer lichten Zeile wird ein fett gebildetes Wort (und man wird es immer gegensätzlich
sehr fett halten) stets niedriger wirken. Das kommt von seiner verhältnismäßig breiteren Außenform
und den niedrigeren Buchstabenausschnitten. Deshalb würde man durch eine geringe Höhergestaltung
des Wortes doch optisch ausgleichen müssen. Die oben erwähnte Korrektur an der Höhe ist hier
gerade ausreichend.
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Die runden und ovalen Buchstabenteile werden zunächst nur nach innen verbreitert. Da die geraden
Buchstaben seitlich zugenommen haben, wirken die runden bei fetten Schriften etwas kleiner. Die
Rundungen sind also besonders entschieden über die Zeilenlinien hinauszuführen. Bei überfetten
Schriften muß man allerdings auch in der Außenform ins liegende Oval übergehen. Das О muß
auf jeden Fall etwas breiter als das n sein.
Die Bildung der mageren Formen wird in umgekehrter Weise wie die der fetten vorgenommen.
Dekorative Veränderungen der Schrift
Das Aufsuchen ungewöhnlicher Wirkungen ist in dem Bestreben begründet, das Schriftwerk aus
irgendeinem Grunde aus der Masse des Geschriebenen hervorzuheben. Das vornehmste Mittel hierzu
ist freilich die bessere Qualität: bessere Schriftformen, feinere Verhältnisse, gute Raum Verteilung
usw. Die Veränderung des gesetzmäßigen Gefüges der Schrift führt bei dem Nichtkönner zu schweren
Verheerungen im Schriftbild. Wer aber die Schrift beherrscht, wird in allen Veränderungen dennoch
Alles, was wahr ist ist gut,-
bei näherer Betrachtung
audi SChÖn. Feuerbach
Bild 108. Abweichungen vom normalen n-o-Verhältnis als dekoratives Mittel
eine Gesetzmäßigkeit walten lassen. Er wird sich den Takt anerzogen haben, was und wie man es
machen darf, und seine Ausdrucksmittel an den richtigen Stellen ansetzen. Einige solcher Verände¬
rungen sollen hier kurz besprochen werden.
Die erste betrifft das n-o-Verhältnis. Vielfach werden heute bei Groteskschriften die n-Buchstaben
eng gebildet, die o-Buchstaben aber kreisrund. Das geschieht manchmal aus Bequemlichkeit (beson¬
ders bei Glasschildern, um mit dem Zirkel schneiden zu können), manchmal aber auch im Streben
nach dekorativer Wirkung. Bei längeren Texten kann die rhythmische Wiederkehr der Kreisformen
belebend wirken. Kurze Texte mit ungünstiger Buchstabenfolge geben ein unausgeglichenes Bild. Es
ist zu fragen, warum uns eine zu große Breite der Rundbuchstaben nicht so unangenehm berührt wie
eine zu geringe Breite. Der Grund liegt darin, daß unser Empfinden das zu schmale о als Verstärkung
einer optischen Täuschung negativ wertet, während das zu breite eher als entschiedene Korrektur
dieser Erscheinungen angesehen wird. Wir bewerten es deshalb positiv. Letzten Endes ist für unsere
Zustimmung der Takt entscheidend, mit dem diese Abwandlung durchgeführt ist (siehe Bilder 108
und 109).
FOTOARTIKEL
Bild 109. Gegenbeispiel. Übertriebener Unterschied in den Buchstabenbreiten bei ungünstiger Buchstabenfolge
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