Sehr gebräuchlich ist heute die Verbindung von Schreibschrift mit der Grotesk oder Antiqua. Diese
Zusammenstellung wirkt durch den Kontrast. Die gesetzmäßig strengen Schriften stehen im größt¬
möglichen Gegensatz zu einer gefühlsmäßig und frei gestalteten Schrift.
Als Titel- oder Auszeichnungsschrift zur Blockschrift kann auch die Egyptienne benutzt werden. Die
verwendete Blockschrift gibt dann die Grundform, die einfach mit Klötzen versehen wird. Egyptienne-
formen können aus der runden, der ovalen und der steilen Blockschrift entwickelt werden.
Oft muß der Maler vorhandene Firmenzeichen oder Schriftzüge verwenden. Er wird auch hier ver¬
suchen, den weiteren Text stilistisch anzupassen. Manchmal entsprechen die hier verwendeten Schriften
dem Geschmack einer vergangenen Zeit und werden nur aus Tradition beibehalten. In anderen Fällen
sind sie absichtlich in eigenartigen Formen gehalten. Hier ist es dann am besten, als weitere Schrift die
unserer Zeit entsprechende und doch neutrale Grotesk zu wählen. Das ist auch für die im vorigen Ab¬
schnitt erwähnten altertümlichen Schriften anzuraten, sofern nicht der gesamte Text einheitlich gestaltet
werden muß. Die illustrative Wirkung wird durch den Gegensatz zur modernen Grotesk noch verstärkt.
Das Mischen der Schriftarten erfordert ein feines Gefühl und eine genaue Kenntnis aller Stilmerkmale.
Ein Grund mehr, das Studium aller historischen Schriften ernsthaft zu betreiben.
Die Lesbarkeit
Die Lesbarkeit ist der Sinn jeder Schriftgestaltung. Wir müssen uns deshalb über die Faktoren, die sie
fördern oder einschränken, Klarheit verschaffen. Die Geschichte der Schrift zeigte uns die Entwicklung
auch in dieser Richtung. Die Ausbildung von Ober- und Unterlängen, die schließlich zur Kleinbuch¬
stabenschrift führte, die späteren Wort- und Satztrennungen und der Gebrauch des i-Punktes waren
sämtlich Gliederungsmaßnahmen, um die Erfassung des Schriftbildes zu erleichtern. Man begnügte sich
ziemlich lange mit einer minderen Lesbarkeit. Die Buchstaben wurden auch später nicht immer unter
dem Gesichtspunkt der größten Deutlichkeit gestaltet. Der Formwille der Zeit sprach hier mit
und unterwarf die reine Zweckform oft weitgehenden, gefühlsbedingten Umbildungen. Dem Schrei¬
ber kam es nicht allein auf schnelle Lesbarkeit an, er hatte auch das Bestreben, eine eindrucksvolle
Schrift zu geben. In früheren Zeiten war das Lesen überhaupt eine minder eilige Angelegenheit als
heute. Zudem war das Lesen und Schreiben zunächst Privileg eines kleinen Kreises Gebildeter. Das
gute Erfassen des Geschriebenen ist aber nicht allein von der Schriftform abhängig, auch die Intelligenz
und Übung des Lesers spielen eine Rolle.
Das gesteigerte Tempo der Neuzeit und die Verbreitung des Schriftgutes unter alle Bevölkerungs¬
schichten läßt uns an die leichte Erfaßbarkeit besonders hohe Anforderungen stellen. Dabei müssen
wir uns aber stets den Zweck vor Augen führen, dem unsere Beschriftung dienen soll. Man ver¬
gegenwärtige sich einmal zwei ganz verschiedene Aufgaben. Die erste verlangt von uns die Gestal¬
tung der Schilder in einem Bahnhof mit regem Umsteigeverkehr. Hier müssen die Reisenden den Text
blitzartig erfassen können. Sie sollen ja durch ihn geleitet werden, wobei sich schon eine kleine Ver¬
zögerung in unangenehmer Weise auswirken kann. Schriftform und farbige Gestaltung müssen daher
das Äußerste an Lesbarkeit hergeben. Die zweite Aufgabe führt uns in eine Kirche. Um den. halb¬
kreisförmigen Altarraum soll ein Schriftfries mit einem Spruch laufen. Gewiß müssen auch hier die
Buchstaben klar gestaltet sein, schon wegen der zu überbrückenden Entfernung und der je nach dem
Standpunkt verschiedenen perspektivischen Zusammendrängung. Aber hier befindet sich der Leser im
Ruhezustand. Die Schriftform kann deshalb mehr geistige Ausdruckswerte aufnehmen und stimmungs¬
bildend den Text unterstützen. Daß dabei ein ruhigeres Lesen erzwungen wird, ist ganz im Sinne der
Aufgabe. Es gilt also von Fall zu Fall abzuwägen, inwieweit das Streben nach höchster Lesbarkeit
oder nach unmittelbarem Formausdruck bestimmend sein muß.
Sofern die Buchstaben formgerecht gezeichnet sind, ist ein besonderes Bemühen um Lesbarkeit erst bei
längeren Texten und bei großen Entfernungen erforderlich. Kurze, ein- oder zweizeilige Beschrif¬
tungen, wie sie beispielsweise an Ladengeschäften Verwendung finden, erweisen sich in jeder Schrift¬
art von genügender Lesbarkeit. Eine Fahrt mit dem Kraftwagen oder der Straßenbahn beweist das. Im
Vorüberfahren wird das Auge kaum einmal stocken, wenn die Schriften nur einigermaßen sachgemäß
geformt sind.
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STADTBIВ LI OTH EK
Bild 85. Höhe der Versalienschrift bei gleicher Länge wie auf Bild 86
Stadtbibliothek
Bild 86. Höhe der Buchstaben bei Anwendung des gemischten Alphabets im Verhältnis zur Versalienschrift des Bild 85
Umfangreiche Texte müssen klar gegliedert sein. Geringer Zeilenabstand verringert die Lesbarkeit.
Bei dekorativen Beschriftungen rückt man die Zeilen manchmal eng zusammen, um ein Schriftbild
von teppichartiger Wirkung zu erreichen. Man verzichtet dann bewußt auf größte Deutlichkeit. Schrif¬
ten mit verbindenden Formelementen lesen sich fließender als skelettartige. Darum sind längere Texte
in Groteskschriften schwerer lesbar als z. B. in Antiqua geschriebene.
Wegen ihrer geschlossenen Wirkung werden häufig Versalienzeilen verwendet. Die Lesbarkeit ist durch
das Fehlen von Ober- und Unterlängen, die dem Auge eine schnelle Orientierung ermöglichen, her¬
abgesetzt. Der geübte Leser buchstabiert ja nicht wie ein Kind oder Anfänger, er erfaßt vielmehr auf
Grund seiner Erfahrungen gleichzeitig mit dem Gesamtbild des Wortes auch schon seinen Sinn. Bei
einem einzelnen Wort oder einer Einzelzeile fällt diese verminderte Lesbarkeit kaum ins Gewicht,
es sei denn bei großen Entfernungen. Bei längeren, vielzelligen Texten wirkt sie sich in zunehmen¬
dem Maße aus.
Zu beachten ist, daß die Kleinbuchstaben-Alphabete mehr schmal ausgebildete Zeichen enthalten als
die Großbuchstaben-Alphabete (f, 1, r, t). Bei feststehender Länge des Schriftfeldes läßt sich deshalb
der gleiche Text etwa um das Maß der Oberlänge höher gestalten (Bilder 85 und 86). Etwas zugunsten
der Lesbarkeit von Versalienzeilen wirkt sich ihre größere Formverschiedenheit aus (Bild 87).
In den englisch sprechenden Län¬
dern werden übrigens auf Schildern ACE RNUM PQ
fast ausschließlich Versalien ver¬
wendet, ohne daß es als Mangel СІСѲ ГПиГП P Я
empfunden wird. Die Anfangs¬
buchstaben von Sätzen, Namen Bild 87. Der größere Formunterschied der Versalien
usw. werden dort etwas größer
gehalten als die übrigen Buchstaben. Vielleicht gelangen wir im Laufe der Entwicklung zur Einbuch-
stabenschrifl, die Geschlossenheit mit leichter Lesbarkeit in sich vereinigt.
Bei Frakturschriften und der Schreibschrift verbietet sich die ausschließliche Verwendung von Versa¬
lien von selbst. Diese Alphabete sind von Anfang an als gemischte entstanden. Der Formenreichtum
ihrer Großbuchstaben ist nur in Verbindung mit den ruhiger wirkenden Kleinbuchstaben erträglich.
In Sonderfällen hat man allerdings auch einzelne Worte ganz aus großen Fraktur- oder Kursiv¬
zeichen gebildet. Es sind dies Grenzfälle, die nur unter besonderen Bedingungen noch zulässig sind,
z. B. zur Erreichung außergewöhnlicher dekorativer Wirkungen.
Sehen wir uns nun die einzelnen Schriftarten auf ihre Leserlichkeit hin an. Die Mediäval-Antiqua ist
auch in dieser Hinsicht eine vollkommene Schrift. Ihre Buchstaben haben sehr unterschiedliche Grund¬
formen. Die Haarstriche sind von genügender Breite und enden mit Ausladungen. Köpfchen und Füß-
chen haben neben ihrer ästhetischen Absicht eine wichtige technische Funktion. Sie wirken nämlich den
Überstrahlungen der Balkenenden entgegen und geben vor allem den Haarstrichen einen entschie¬
denen Abschluß. Damit wird auch ein gewisser Ausgleich für die verhältnismäßig geringen Balken¬
stärken der Antiqua geschaffen. Ein fließendes Lesen wird durch den runden Übergang zu den Füßchen
und leichte Schwünge ermöglicht. Sie geben dem Auge eine Überleitung zum nächsten Buchstaben und
schaffen ein weicheres Schriftbild. Es wird dadurch im Prinzip das gleiche erreicht wie bei einer Milde-
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