Statik und Dynamik im Buchstaben
Jeder Buchstabe muß schon als Einzelwesen statisch ausgewogen sein, d. h., er muß im Gleichgewicht
ruhen. Auch wenn er nicht symmetrisch geformt ist, soll er für das Auge einen sicheren Stand haben.
Die Formelemente müssen sich in rechter Weise tragen und stützen.
Es liegt in unserer Schrift aber auch eine Dynamik (bewegende Kraft), die entsprechend unserer
Schreibweise von links nach rechts geht. Die unsymmetrischen Buchstaben B, D, E, К usw. sind nach
rechts gerichtet, während sie bei der früheren Linksläufigkeit der Schrift nach links zeigten. In den
RRRRR
a b с d e
Bild 40
Antiqua- und Frakturschriften ist die Dynamik durch Abrundungen und leichte Schwünge noch ver¬
größert. In gewissen Abständen wird die Bewegung von Buchstabe zu Buchstabe immer wieder ange¬
trieben. Die Schrift muß auch in dieser Hinsicht verständnisvoll geformt werden.
Im Laufe unserer Ausführungen mußte mehrfach auf statische Maßnahmen hingewiesen werden. Da
jedoch in der Praxis auf diesem Gebiete viel gesündigt wird, wollen wir einige solcher Entgleisungen
näher besprechen, um die Aufmerksamkeit auf diese Fehler zu lenken.
Bild 40 zeigt das R in verschiedenen Formungen, a ist statisch unausgeglichen. Der schräge Balken
stützt weder den Bogen des R, noch schafft er im Buchstaben Gleichgewicht. Im Beispiel b wird das
Gleichgewicht durch eine Verlagerung des Fußpunktes nach rechts hergestellt. Der Schrägbalken
stützt den Buchstaben in einem günstigeren Punkte. Die Statik ist somit gesichert. Soll der schräge
FFF
ab с
Bild 4i
Balken im Schnittpunkt von Bogen und Senkrechter einsetzen, so muß der Bogen kleiner gehalten wer¬
den, wie с zeigt. Im römischen Kapitalbuchstaben (d) erfüllt der Schrägbalken seine Funktion mit
leichter Eleganz und weist mit sanftem Schwung zum nächsten Buchstaben. Es ist hier eine Dynamik
wirksam. Das klassizistische R (e) erfüllt die gleichen Bedingungen nach dem ihm eigenen Stilgesetz. Der
untere rechte Teil des Buchstabens steht in einer Flucht mit den äußersten Punkten des darüberstehen¬
den Bogens. Er erscheint dadurch etwas nach rechts gerückt. Zusammen mit der Biegung nach außen
gibt diese Stellung dem Buchstaben statische Festigkeit und eine leise Dynamik.
In Bild 41a sehen wir ein Antiqua-F. Trotz der einseitigen Belastung trägt der senkrechte Schaft
mühelos die horizontalen Buchstabenteile. Auch im Groteskbuchstaben (b) ist die Statik erhalten, da
die waagerechten Balken in einem angemessenen Verhältnis stehen. Durch den optischen Ausgleich
ist ihnen noch etwas von ihrer Schwere genommen. Dagegen wirkt das Monstrum nach DIN 1451
geradezu beängstigend (c). "Wir erwarten jeden Moment, daß die horizontalen Balken ob ihres Über¬
gewichtes abbrechen. Sofern die Notwendigkeit besteht, das F so breit auszubilden, kann die Statik
nur durch entsprechende Verbreiterung des senkrechten Balkens gesichert werden (d). Überbreite
Schriften müssen stets mit ungleichen Schenkelbreiten gebildet werden.
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sss
a b ' с
Bild 42
Das S von Bild 42a fand ich auf dem Firmenschild einer Gro߬
bank. Vielleicht glaubte der Zeichner, er habe für die richtige
Form genug getan, indem er die Runden seitlich über die Ge¬
raden hinausführte. Der untere Teil des S-Bogens trägt Bild 42 d
jedoch den oberen nicht. Der Buchstabe wirkt schief und
unsicher. Auch ein genau senkrechtes Ubereinanderstehen von Ober- und Unterteil befriedigt nicht (b).
Erst das Beispiel с ist ausgeglichen, d zeigt das Konstruktionsprinzip. Das Grundrechteck des unteren
Teiles, der tragend ist, muß etwas größer als das obere sein. Durch das Überschneiden der Senk¬
rechten durch die Runden schließen Ober- und Unterteil links gleich ab, rechts steht das Unterteil
vor.
Das zirkelgerecht gebildete e von Bild 43 a neigt dazu, nach rechts wegzurollen. Im Muster b ist dem
oberen Teil durch den optischen Ausgleich schon etwas von seiner Schwere genommen. Der untere
Teil des Buchstabens weicht von der Kreislinie etwas ab. Dadurch erhält er eine federnde Kraft, die
ihm ermöglicht, das Oberteil in Gleichgewicht zu halten. Das Mediäval-e (d) zeigt bei Wahrung
des Gleichgewichts dynamische Ansätze.
Bild 45
t Weder die Beispiele a noch b
von Bild 44 genügen unserem
Gleichgewichtssinn, с ist ausge¬
glichen. Zu beachten ist, daß der
schwach endende Bogen weiter
vorspringen muß als der senk-
e recht und dick endende Quer-
ВІЫ44 strich. Das Grotesk-t beharrt im
Gleichgewicht (d). Auch im t der
Futura ist es erhalten. Die Verschiebung des Querbalkens nach rechts hat außerdem eine Dynamik
hervorgerufen.
Das T von Bild 4$a hängt auf den nachfolgenden Kleinbuchstaben, da es unfähig ist, sich im Gleich¬
gewicht zu halten. Der Schreiber hat in dem Bestreben, ein „Loch" im Wortbild zu vermeiden, den
tragenden Bogen (1) verkümmern lassen. Dieser muß aber frei ausschwingen, um die übrigen Buch¬
stabenteile tragen zu können (b). Dann stört auch der Hohlraum nicht, weil er begründet ist. Die
abfallende Linie des Querbalkens (2) verstärkt die ungünstige Wirkung noch. Er würde besser
denen von a und g parallel gestellt sein.
Bild 46 a zeigt einen stilistisch unreinen Buchstaben. Er ist in seinem linken Teil ohne Gefühl für
Gleichgewicht geformt. Der senkrechte Balken (1) ist nicht imstande, die Last des abschwingenden
tut