Der optische Ausgleich
Oft wird gerade bei sorgfältig vorbereiteten Arbeiten ein wichtiger Faktor außer acht gelassen, der
in manchen flüchtigeren Arbeiten schon gefühlsmäßig berücksichtigt wird: die Auswirkung der opti¬
schen Gesetze. So war es auch im Beispiel des vorigen Abschnittes. Unsere Gesichtseindrücke werden
durch Täuschungen beeinflußt, d. h., die Formen erscheinen uns nicht immer so, wie sie sind. Auch
bei der Schrift machen sich solche Täuschungen bemerkbar, und zwar in negativer Weise. Ihre Wir¬
kungen widersprechen unserem Schönheitsempfinden. Wir müssen sie deshalb erkennen und ihnen
durch Korrekturen entgegenarbeiten.
Bei größeren Schriften, die sich nicht so leicht überblicken lassen, können wir uns auf einen gefühls¬
mäßigen Ausgleich nicht mehr verlassen. Man denke an große Fassaden- oder Giebelbeschriftungen,
die vom Gerüst aus geschrieben werden oder an Zeichnungen für Glasschilder oder plastische Buch¬
staben, die genaue Unterlagen für die Ausführung sein sollen. Hier müssen diese Täuschungen schon
in der Zeichnung berücksichtigt sein. Die Korrekturen müssen um so entschiedener vorgenommen
werden, je größer die Buchstaben sind und je weiter die durchschnittliche Entfernung vom Betrachter
sein wird. Normen für alle diese Abweichungen lassen sich nicht angeben. Bei kleineren Schriften
kann es sich um die Breite eines Bleistiftstriches, bei großen um Millimeter, ja Zentimeter handeln.
Unausgesetzte Beobachtung und Übung des Auges lassen mit der Zeit das rechte Maß finden. Es
ist auch nur begrenzt möglich, im kleinen Format unserer Bilder anschauliche Beispiele zu bringen.
Am dringendsten bedarf die Blockschrift des optischen Ausgleiches. Ihre geometrischen Grundformen
werden dadurch überhaupt erst aus ihrer Abstraktheit erlöst und lebendig gemacht. Aber auch bei
allen anderen Schriften sind die hier gewonnenen Erkenntnisse anzuwenden.
Der optische Ausgleich geht nur soweit, die Täuschungen aufzuheben, also z.B. das kreisförmige Band
eines О wirklich überall gleich dick erscheinen zu lassen. Wird diese Korrektur über das notwendige
Maß hinausgeführt, dann handelt es sich schon um eine gestalterische Maßnahme (Bild 31). Zu
beachten ist, daß unser Gefühl Formveränderungen, welche die Richtung des optischen Aus¬
gleiches fortsetzen, anerkennt. Dagegen wird selbst die kleinste, vielleicht durch ungenaues Ar¬
beiten hervorgerufene Veränderung in Richtung der optischen Tauschung als unangenehm empfun¬
den. So wirkt es beispielsweise nicht allzu störend, wenn die Querbalken des F zu dünn gehalten
werden. Sie sind ohnehin e.twas dünner als der senkrechte Balken zu zeichnen, wenn sie diesem gleich¬
wertig erscheinen sollen. Werden aber durch fehlerhaftes Schreiben die waagerechten Balken auch nur
eine Kleinigkeit dicker gehalten als
der senkrechte, dann wird dieser
Fehler gleich sehr auffällig und als
störend empfunden.
Einige der wichtigsten optischen
Täuschungen und ihre Abhilfe wol¬
len wir hier besprechen. Bei der
Feststellung des Verhältnisses von
H und О wurde schon erwähnt,
daß die Rundungen die Geraden
nicht nur seitlich, sondern auch an
den Zeilenlinien etwas überschnei¬
den müssen. Das О würde sonst
niedriger als das H wirken. Es
handelt sich hier um ein geringes
Maß, da der Ausgleich nur die kurze
Strecke der Balkenbreite betrifft,
während beim seitlichen Ausgleich
die gesamte Höhenausdehnung des
Buchstabens zu berücksichtigen ist.
Es darf also des Guten nicht zuviel
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Bild 31. Die Grenzen des optischen Ausgleiches, a zeigt einen schema¬
tisch konstruierten Buchstaben. Ober- und Unterteil sind genau von
gleicher Größe und stehen senkrecht übereinander. Dennoch hat man das
Gefühl, als sei der obere Teil größer und springe weiter vor. Er scheint
das Unterteil zu erdrücken, b ist optisch ausgeglichen. Der obere Bogen
ist etwas kleiner als der untere, das Unterteil ist etwas vorgezogen.
Ober- und Unterteil erscheinen nun etwa gleich groß. Im Beispiel с sind
diese Veränderungen weitergeführt. Die Teilung ist entschieden über die
Mitte verlegt, das Unterteil wölbt sich deutlich vor. Der Buchstabe wird
dadurch auch statisch überzeugender (siehe den Abschnitt „Statik und
Dynamik im Buchstaben"). Hier sind also die optischen Korrekturen aus
ästhetischen Gründen über das notwendige Maß hinausgeführt.
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getan werden, sonst springen die Rundungen über die Zeilenlinien hinaus. Es genügt etwa ein Fünf-
zigstel der Buchstabenhöhe. Je fetter allerdings die Schrift ist, um so entschiedener muß dieser Aus¬
gleich vorgenommen werden. Mit zunehmender Breite berühren ja die Balkenenden die Zeilenlinien in
immer breiterer Front. Besonders deutlich müssen die Rundungen auch am Anfang eines Wortes über
die Zeilenlinie geführt werden, da sie sozusagen nur von einer Seite optisch gestützt sind (Bild 32).
Ein zu kleiner Anfangsbuchstabe wirkt aber stets unglücklich.
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Bild 32. Das Überschneiden der Zeilenlinien durch die Rundungen. (Die stärkere Überschneidung am Wortanfang ist der
Deutlichkeit wegen übertrieben dargestellt.)
Auch alle spitz endenden Buchstabenbalken müssen über die Zeilenlinien hin¬
ausgeführt werden. Das Schema von Bild 33 macht deutlich, daß sie sonst
gegenüber den stumpf endenden Balken zurücktreten. Eine Überschneidung
der Zeilenlinien ist erforderlich bei spitzer Ausbildung des A, M, N und ge¬
wissen Balken der Mediäval-Antiqua.. Bei Schriften mit vorwiegend spitz
endenden Balkenteilen, also der Gotisch, Rotunda, Schwabacher und Frak¬
tur, ist es zweckmäßig, die Zeilenlinien für die spitzen Endungen zu ziehen, die
Waagerechten aber etwas nach innen zu verlegen (Bilder 34 und 35).
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Bild 34 Bild 35
Das Überschneiden der Zeilenlinien durch die Spitzen Das Kürzen der stumpfen Balkenenden
Bild 36a zeigt ein kreisförmiges Band in zirkelgerechter Bildung. Wir wollen es für ein Blockschrift-
O nehmen und unbefangen auf seine Form hin betrachten. Zunächst machen wir die Feststellung,
daß die Kreisform etwas gedrückt erscheint. Ganz entschieden ist dies bei dem inneren Kreis der Fall.
Die Balkendicke erscheint seitlich deutlich geringer als oben und unten. Bei der Betrachtung von
Schildern werden wir ein so primitiv gebildetes О stets als plump empfinden. Noch unvollkommener
stellt sich die nur zirkelgerechte Bildung beim e dar, besonders wenn es auch statisch nicht ausgeglichen
ist (Bild 43). Solche unvollkommenen Buchstaben sind sehr oft auf Glasschildern zu sehen, die im
Ausschneideverfahren hergestellt sind. Hier wird meist aus Bequemlichkeit gedankenlos der Zirkel
verwendet. Beim Schreiben führt oft schon der Augenschein zum Ausgleich.
Um ein harmonisch wirkendes О zu erhalten, ist es empfehlenswert, schon den äußeren Kreis etwas
zu überhöhen. Es genügt, wenn man dazu den Kreis in zwei Halbkreise zerlegt, deren Mittelpunkte
etwas über und unter der Mitte liegen (Bild 36b). Der geringe Zwischenraum wird freihändig
gezogen. Der Abstand von der Mitte soll etwa Vwo des Gesamtdurchmessers betragen, also bei 50 cm
Durchmesser je 5 mm nach oben und unten. Antiquaschriften und der ungleichschenkligen Block
kann man die kreisförmige Außenform des О belassen, da der Mittelwert der an- und abschwellen¬
den Balken ohnehin ein stehendes Oval ergibt. Auch bei fetten Schriften wird man die Außenform
kreisförmig halten. Unbedingt muß aber bei allen Blockschriften ein Ausgleich des Innenkreises
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Bild 33. Schema
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