Kanzleischrift
(Tafel ю)
Die Kanzleischrift hat sich etwa vom 17. Jahrhundert an entwickelt. Nach Erfindung der Buch-
druckerkunst war die Blüte der Schreibkunst vorüber. Die Schreibmeister wurden zu Kalligraphen.
Oft wurde die Schrift mit Schnörkeln überladen. Der
lebensfrohe Zug in vielen dieser Schriften läßt sie uns
dennoch lieb werden.
Die Kanzlei muß besonders leicht und locker geschrie¬
ben werden. Ihre Buchstaben lassen zahlreiche Varia¬
tionen zu. Die Schwünge dürfen nicht mit voller Breite
des Schreibwerkzeuges gebildet werden. Sie fallen sonst
zu schwer aus und machen die Schrift plump. Pinsel
oder Breitfeder müssen deshalb gekantet werden, wo¬
bei die Elastizität dieser Werkzeuge ausgenutzt wird.
Das Kanten erfordert natürlich einige Übung. Es ist
auch möglich, diese Schwünge mit einem schmaleren
Werkzeug anzusetzen. Die Schrift fällt jedoch flüssiger
„ „ aus, wenn sie in einem Arbeitsgang fertiggeschrieben
Bild 30. Das Kanten . '
von Breitfeder und Plattpinsel Wird.
Englische Schreibschrift
(Tafel 11)
Die englische Schreibschrift ist heute sehr beliebt, wie überhaupt geschwungene, formenreichere Schrif¬
ten wieder mehr geschätzt werden. Die steifen Blockschriften beherrschen unsere Werbungen nicht mehr
allein.
Diese Schriftart entstand im 18. Jahrhundert in England. Sie wurde mit spitzer Feder geschrieben. Das
gegebene Schreibwerkzeug dazu war die spitze Stahlfeder, die damals entstand. Mit dieser läßt sich
der für diese Schrift typische Schwellstrich am besten bilden. In unserer Malerpraxis arbeiten wir mit
einem spitzen, aber nicht zu spitzigen und nicht zu kleinen Marderpinsel. Die Schrift ist recht
schwierig zu schreiben. Sie muß zeichnerisch sehr sorgfältig vorbereitet werden.
Lange Texte wird man in der Malerpraxis in dieser Schrift nicht schreiben. Als einzelnes Wort, als
Namenszug oder in einem kurzen Satz nimmt sie sich am besten aus. Größere Entfernungen sind
mit dieser Schrift nicht zu überbrücken, dazu ist sie zu zart. Nur in Ausnahmefällen wird man sie
für Außenbeschriftungen verwenden können.
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Gezeichnete Schriften
Allgemeines
Wir haben die Schriften in gezeichnete und in freier Technik gestaltete eingeteilt. Eine solche Trennung
ist natürlich nicht absolut. Die im ersten Abschnitt gebrachten Alphabete können auch gezeichnet
werden. Sie sind dann aber von allem Zufälligen der Handschrift zu befreien. Ihre Formen müssen
bewußter gestaltet werden. Das hierzu notwendige Wissen wird durch das Studium der folgenden Ab¬
schnitte erworben. Umgekehrt lassen sich die meisten gezeichneten Schriften auch in freier Technik
schreiben. Ohne weiteres ist dies bei den Schriften der Tafeln 21 bis 24 möglich, die aus der Feder-
schrift entstanden sind. Die modernen Groteskschriften lassen das nur mit Einschränkungen zu. Als
Kinder des technischen Zeitalters müssen sie präzis dargestellt werden. Eine genaue Maßeinteilung ist
unbedingt erforderlich. Lediglich ihre Ausführungstechnik kann im einzelnen etwas aufgelockert
sein.
Die meisten Schriftausführungen bedürfen einer eingehenden zeichnerischen Vorbereitung. Das An¬
wendungsgebiet der frei geschriebenen Schriften ist auf dekorative Arbeiten im Innenraum, das Pla¬
kat und allenfalls kleine Außenbeschriftungen beschränkt. Größere Schriften bedürfen einer größeren
Maßgenauigkeit, die nur gefühlsmäßig nicht zu erreichen ist. Beschriftungen, die im Zusammenhang
mit der Außenarchitektur stehen, müssen sorgfältig ausgewogen und frei von allen Zufälligkeiten
sein. Sie müssen also zeichnerisch vorbereitet werden. Schon das große Format schließt ein Über¬
blicken des Ganzen aus. Ungleichheiten in der Bildung der Buchstaben werden aber um so deut¬
licher sichtbar. Bei Glasschildern, die von der Rückseite und in Spiegelschrift bearbeitet werden, ist
schon wegen der Ausführungstechnik eine genaue Zeichnung notwendig. Überhaupt wird eine um
so sorgfältigere Ausformung und Vorbereitung erforderlich, je weiter sich die Arbeit in Technik und
Verwendungszweck vom Provisorischen und Dekorativen entfernt.
Um ein einwandfreies Schriftbild schaffen zu können, muß man sich über die in der Schriftform wirk¬
samen Gesetze möglichst klar sein. Diese bedürfen aber der Ergänzung durch das Gefühl. Keines¬
falls darf man die Buchstaben nach einem groben Schema formen. Zuweilen sieht man Schilder, die
durch ihre saubere, aber kalte Wirkung auffallen. Oft sind sie von Angehörigen zeichnerischer Be¬
rufe hergestellt, die mit dem Schriftschaffen nur in loser Beziehung stehen, von technischen Zeichnern,
Bauzeichnern, Lithographen o. a. Für den Blick des Laien haben solche Arbeiten zunächst etwas Be¬
stechendes. Bewundernd sieht er die sauber mit der Reißfeder gezogenen Linien, haarscharfen Ecken,
zirkelgezogenen Kreise. „Saubere Arbeit!" Er wird sich vielleicht gar nicht des unfrohen Gefühles
bewußt, das ihn trotzdem befällt.
Einem anderen Betrachter, der sich nicht so leicht von Äußerlichkeiten bluffen läßt, kommt manches
daran nicht geheuer vor. Er empfindet das Unharmonische der Wirkung. Es scheint ihm, als ob die
Schrift mal weit, mal eng steht. Nicht alle Balken erscheinen gleich stark, nicht alle Buchstaben gleich
hoch zu sein. Die Kreise kommen ihm verzerrt vor. Moniert er dies bei dem tüchtigen Schriftmaler, so
holt der wohl triumphierend Maß und Zirkel und beweist ihm, daß alles stimmt. Dann wird der
Kritiker meist unsicher und stumm. Er muß sich geirrt haben. Nur dem mit der Materie ganz Ver¬
trauten wäre es möglich, die sachlichen Beweise für sein richtiges Gefühl zu erbringen.
Dagegen gibt es flüchtige Gelegenheitsarbeiten, bei denen es der Maler nicht so genau genommen hat
Das Schriftbild ist aber trotzdem harmonisch und fließend, es befriedigt unser Gefühl noch eher. Des¬
halb verzichten wir zur Not auf die letzte Sauberkeit der Ausführung, wenn das Gesamtbild lebens¬
voll ist. Zu erstreben ist natürlich immer das vollkommene Werk, in dem sich natürliches Form¬
gefühl, Beherrschung der Theorie und gekonntes Handwerk vereinigen.
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