Die Schreibfedern müssen, wie jedes Werkzeug, sorgfältig gepflegt werden. Neue Federn sind noch nicht
gut, sie müssen erst eingeschrieben werden. Man wird bald merken, daß jede Feder, ebenso wie ein
Pinsel, seine Eigenart hat. Nach und nach wird die Feder immer brauchbarer. Erst nach längerem Ge¬
brauch ermüdet schließlich das Material: die Feder hat ausgedient. Nach dem Schreiben wische man
die Feder mit einem nichtfasemden Läppchen aus und schütze sie in einem Kästchen vor Beschädi¬
gungen. Verborge nie eine eingeschriebene Feder, sie ist wertvoll! Gib lieber eine neue weg.
Die Schreibflüssigkeit soll möglichst dünnflüssig sein. Zum Üben kann eine gute, schwarzwerdende
Tinte benutzt werden. Sonst verwendet man am besten „Scribtol", eine besonders dünnflüssige
Schreibtusche. Die farbigen Tuschen sind zum Schreiben nicht geeignet. Sie trocknen fleckig auf und
sind auch zu grellfarbig. Man verwendet auf weißem Papier besser Aquarellfarbe, die sich vorzüg¬
lich schreibt. Auf farbigem Grund kann man auch mit Temperafarbe schreiben. Sie wird dazu etwas
dünnflüssiger als gewöhnlich gehalten. Manche Sorten wischen dann etwas, besonders bei saugendem
Grund. Nach einem Versuch leime man evtl. mit etwas Gummiarabikum oder Dextrin nach. Die Farbe
wird mit einem Pinsel, den man ständig in der linken Hand behält, in die Uberfeder eingefüllt. Die
Feder muß immer feucht sein, damit die Farbe ihren Fluß behält. Während der Arbeit muß sie öfters
ausgewaschen werden. Nach einiger Übung geht das Schreiben sehr gut. Man kann auf diese Weise
vorteilhaft kleine Kartonschilder anfertigen. Sogar auf Kaseinanstrich läßt sich so schreiben.
Das Üben mit der Feder
Beim Schreiben mit Tusche oder Tinte wird die Feder in die (nicht zu enghalsige) Flasche eingetaucht
und leicht abgestrichen. Der Federhalter muß leicht und ungezwungen in der Hand liegen. Er ist beim
Schreiben mit Kunstschriftfedern etwas steiler als gewöhnlich zu halten. Man macht sich zunächst mit
den Ausdrucksmöglichkeiten der Feder durch Schreiben von Punkten und Strichen in verschiedener
Lage vertraut, wie das auf einigen unserer Tafeln zu sehen ist. Dann beginne man zuerst die ein¬
fachsten Buchstaben zu formen und gehe nach und nach zu den schwierigeren über. Einzelne Buch¬
staben übe man nur so lange, bis man Klarheit über ihren Aufbau gewonnen hat. Dann schreibe man
gleich zusammenhängende Texte, zunächst ohne Worttrennung und ohne Rücksicht auf die Wortbildung
bis ans Ende der Zeile. Es gilt nur, die Schriftfläche möglichst gleichmäßig mit wohlgebildeten Buch¬
staben zu füllen. In dieser Weise beschreibe man möglichst viele Blätter.
Nach einigem Üben lese man den Abschnitt „Der Buchstabenabstand" durch und richte nunmehr
sein Augenmerk auch auf die Zwischenräume. Später trenne man auch die Worte nach Durchlesen des
Abschnittes „Der Wortabstand". Die Zeilen sollen ganz ungezwungen enden. Das Bemühen um einen
geschlossenen Schriftblock ginge ja doch nur auf Kosten eines gleichmäßigen Schriftbildes. Erst nach
völliger Beherrschung der Schriftform versuche man symmetrische und asymmetrische Anordnungen
festliegender Texte mit dem Streben nach einem abgerundeten Schriftbild (siehe die späteren Abschnitte
hierüber). Die Schrift wird dazu mit Bleistift vorskizziert.
Beim Üben soll jeder Strich frisch hingesetzt werden und unverändert stehenbleiben. Ein nachträg¬
liches Ausbessernwollen führt leicht, zum Pfuschen. Ist eine Form nicht gelungen, so versuche man
sie das nächste Mal besser zu machen. Es gelingt auch dem Geübten nicht, jeden Buchstaben voll¬
kommen zu schreiben. Der Mensch ist kein Automat. Kleine Ungleichheiten sind bei einer Hand¬
schrift nicht zu vermeiden. Sie machen sogar ihren eigentümlichen Reiz aus. In der Unregelmäßigkeit
sitzt das Leben. Es muß aber ein bestimmter Formwille durch das Ganze gehen. Der Schreiber muß
immer wieder das Bemühen haben, eine Kreisform, ein Oval, einen bestimmten Winkel zu gestalten,
den gleichen Abstand wiederkehren zu lassen oder die gewählte Proportion wieder zu treffen. Dieser
immer wiederkehrende Wille gibt dem Schriftbild seine Konsequenz und Ausgeglichenheit, auch wenn
die Einzelheiten differieren. Fehlt dieser bewußte Wille, dann wird das Schriftbild liederlich und
charakterlos. Zum Schreiben ist Konzentration notwendig. Darum herrscht in einem Schreibsaal wäh¬
rend der Arbeit feierliche Stille. Schrift ist nicht nur Ausdruck des Charakters. Das ständige Bemühen
um Gleichmaß, Ordnung und Formvollendung wirkt auch charakterbildend und kann zu einer
Disziplinierung des ganzen Menschen führen.
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Das Üben mit dem Pinsel
Nachdem man das Schreiben mit der Feder auch im größeren Maßstab geübt und einige Beherrschung
der Buchstabenform erlangt hat, wird man als Maler zum Pinsel greifen müssen. Geübt werden soll
sowohl in waagerechter Lage mit der Schreibbank als auch bei senkrechter Stellung der Schreibfläche.
Als Grund kann billiges Papier oder die Rückseite von Tapetenresten verwendet werden. Das Linien¬
netz wird je nach Größe vorgezogen oder geschnürt. Man kann sich auch eine Linienpause anfer¬
tigen. Über Schreibpinsel und Technik ist im Kapitel „Schreibgerät und Schreibtechnik" nachzulesen.
Das Skelett der Buchstaben
S Bevor wir an praktische Schreibübungen gehen, müssen wir uns mit der Grundform der Buchstaben
vertraut machen. Ihre Kenntnis ermöglicht erst die gesetzmäßige Bildung der Schriften. So verschieden
die einzelnen Schriftarten auch sind, es liegt ihnen allen das gleiche Skelett zugrunde. Mögen ihre
Formen noch so reich ausgebildet oder ihre Proportionen verändert sein, der gesetzmäßige Zusam¬
menhang bleibt bestehen. Selbst unter den barocken Formen der Fraktur verbirgt sich dieses Skelett,
wenn auch z. T. in unzialen Abwandlungen (Bild 22).
Bild 22. Das Skelett der Fraktur
Das Skelett unserer Buchstaben entstammt der von den Römern geschaffenen Kapitalschrift. Es ist
somit die klassische Grundform unserer Schrift. Alle Buchstaben sind in ein Quadrat eingeschrieben,
jedoch nicht sklavisch. Sie nehmen so viel Platz ein, wie zum klaren Ausdruck ihrer Zeichenform und
zur Herstellung einer optischen Gleichwertigkeit erforderlich ist.
Bild 23. Schema Bild 24. Das gesetzmäßige
Verhältnis von H und О
Grundlegend ist das Verhältnis von H und O. Das H hat seitlich eine geringere Ausdehnung als das
kreisrunde O. Der Grund hierfür ist in den beiden Figuren des Bildes 23 zu erkennen. Quadrat und
Kreis haben dort die gleichen äußeren Abmessungen. Dennoch erscheint der Kreis kleiner als das
1 Quadrat, da er dessen Ausdehnung nur an 4 Punkten erreicht. Das Quadrat müßte also verkleinert
werden, wenn beide Figuren gleichwertig erscheinen sollen. Im Falle der Buchstaben H und О wird
der Ausgleich im wesentlichen seitlich vorgenommen, um beide Buchstaben in der Zeilenflucht zu
halten (über den Ausgleich an den Zeilenlinien siehe den Abschnitt „Der optische Ausgleich"). Damit
, erhält das H zugleich ein angenehmeres Verhältnis, als es bei quadratischem Umriß hätte (Bild 24).
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