Schriften unbedingt vor. (In der Wahl der Grotesk selbst war Ich durch die
schon vorhandenen Bestände der Druckerei an Grotesk gebunden.)
Der Hauptgrund, weswegen Grotesk selten als Brotschrift verwendet werden
kann, ¡st der fast überall bestehende Mangel an hinreichenden Mengen.
Schon darum dürften zum Beispiel umfangreiche Drucksachen und gar
Bücher, die wie das vorlieg ende ganzaus Grotesk gesetzt sind, ei neAusna h me
bilden. In allen solchen Fällen wird man sich auf die Grotesk als Auszeich¬
nungsschrift beschränken und für den gemeinen Satz eine gute Antiqua
verwenden.
Mehr noch als bei den historischen Schriften stört bei allen Künstler¬
schriften die ausgesprochen individualistische Linienführung, die der
neuen kollektiven Gesinnung ins Gesicht schlägt und diese Schriften als
letztlinig geeignet erscheinen läßt, in zeitgemäß gestalteten Drucksachen
verwendetzü werden. Keine Zeit ist so übertrieben individualistisch eingestellt
gewesen wie die Zeit seit dem Beginn unseres Jahrhunderts bis zum Kriegs¬
ausbruch. In den Buchdruckschriften jener Zeit: den Künstlerschriften hat
sie ihren vollkommenen Niederschlag gefunden. Sie alle sind übrigens
keineswegs besser als ihre Vorbilder, die klassischen Schriften, die schon
ihrer Qualität wegen unbedingt vorzuziehen sind.
Aber trotzdem können die klassischen Schriften (also Walbaum, Didot,
Bodoni usw.) als Brotschriften in unserer Zeit eigentlich nicht mehr ver¬
wendet werden. Sie bewirken, natürlich besonders In der ihnen zukommenden
typographischen Auffassung, romantische Assoziationen, lenken den Leser
in eine bestimmte Gefühls- oder Gedankensphäre ab und gehören zu offen¬
sichtlich früheren Zeiten an, mit denen uns Heutige nur mehr wenig ver¬
bindet. Eine natürliche — nicht gewaltsame -* Entwicklung hätte sie wohl
kaum wieder ans Tageslicht gezogen.
Am relativ vollkommensten unter den vorhandenen Antiquaschriften der
neueren Zeit scheinen mir die anspruchslosen Werke der unbekannten
Schriftschneider, die ihrer Zeit auf eine bessere Art gedient haben als die
Buchkünstler: Sorbonne, Nordische Antiqua, Französische Antiqua u. ä.
Diese drei Schriften und ihre wenigen Abarten möchte ich an die Spitze
der entscheidenden Schriftenproduktion der Vorkriegszeit stellen.* Sie sind
bequem lesbar, sind, vor allem auch im technischen Sinne, zweckmäßig und
frei von persönlichen Formulierungen, also im besten Sinne uninteressant.
Man wird also vorzugsweise sie überall dort anwenden, wo als Brotschrift
mangels einer geeigneten Grotesk eine Antiqua verwendet werden muß.
• In der Nachkriegszeit wiederholten die Schriftgießereien die alten Fehler nur noch in schlimmerer Form;
ihre täglichen .Schlager" sind für die wirkliche Entwicklung ohne auch nur die geringste Bedeutung.
78
Ober den Ausdruckswert der Schrift
Man wirft den Propagandisten der Grotesk als der Schrift unserer Zeit
häufig vor, diese Schrift habe keinen Ausdruckswert.
Haben die anderen Schriften einen solchen? Liegt es in der Aufgabe einer
Schrift begründet, daß sie „Seelisches" ausdrückt?
Ja und nein. Die Gefühlsinhalte, die die landläufige naive Auffassung fast
allen Schriften zuspricht, sind weder etwa der gotischen Schrift (derTextur)
noch etwa der Grotesk eigen. Erst die gigantische Menge der heute „verfüg¬
baren" Schriftarten, die nur Ausdruck schöpferischer Unkraft und Folge der
schwächlichen eklektischen Einstellung der Vorkriegsjahre ist, konnte zu
der abwegigen Meinung führen, daß etwa die gotische Schrift Ruhe, Feier¬
lichkeit, Religiosität ausdrücke, die Kursive dagegen Heiterkeit und Frohsinn.
Dabei sind aber die unzähligen Abarten schriftlicher Äußerungen irgend¬
einer bestimmten Zeit, g leich viel welcherNatur, immer mit der gleichen
Schrift oder zwei verwandten Schriftformen geschrieben bzw. gedruckt
worden. Zwar ist der Charakter der Gotik religiös und feierlich, und der
des Rokoko (soweit die besitzende Klasse in Betracht kommt) heiter und
froh, aber die Typographie jener Zeiten ist, auch wenn es sich um dem Zeit¬
geist entgegengesetzte Äußerungen handelt, konsequent und stilistisch ein¬
heitlich. In der Zeit der Gotik wurden auch profane Inhalte aus Textur
gesetzt, und eine Einladung zu einer Totenmesse aus dem Rokoko unter¬
scheidet sich in nichts von irgendeiner heiteren Drucksache der gleichen
Zeit (vgl. die Abbildung auf Seite 20).
Eine jede Schrift, vor allem die Type, drückt in erster Linie ihre Zeit aus, so
wie jeder Mensch ein Symbol seinerzeit ¡st. Was die Textur und etwa die
Rokoko-Kursiv ausdrücken, ¡st nicht Religiosität, sondern Gotik, nicht Froh¬
sinn, sondern Rokoko; und der Ausdruck der Grotesk ist nicht Gefühllosig¬
keit, sondern 20. Jahrhundertl Der persönliche Ausdruck des Künstlers ist
geringfügig, er ¡st auch, außer im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts,
nie Ziel gewesen. Die verschiedenen Schriftarten erklären sich aus den
verschiedenen Formauffassungen der Zeiten. Ein jeder Stempelschneider
wollte eine möglichst gute Type schaffen. Wenn dabei Didot anders verfuhr
als Fleischmann, so ist das aus dem Wandel der Zelt herzuleiten, nicht aus
dem Bestreben, eine „besondere", „persönliche" oder „eigenartige" Form zu
schaffen. Die Meinung darüber, wie eine gute Schrift beschaffen sein müsse,
hatte sich eben geändert.
Der eklektischen Einstellung der Vorkriegszeit blieb es vorbehalten, alle
Schriftarten allerZeiten zu goutieren und damitihre künstlerische Schwäche
zu offenbaren. Aus dieser Zelt stammt die naiv-dilettantische Auffassung, ein
Buch über den Dreißigjährigen Krieg müsse aus anderen Typen gesetzt
79