I Papiergrundausschnitte als den schwarzen Schrift- und Flächenformen
gleichwertige Gestaltungselemente. Damit hat die Neue Typographie die Aus¬
drucksmöglichkeiten der Buchdruckerkunst um ein neues Mittel bereichert.
Die schlagende Wirkung mancher Beispiele der Neuen Typographie beruht
gerade auf der Verwendung großer weißer Flächen: Licht wirkt stets
intensiver als Grau oder Schwarz. Starke Gegensätze zwischen Weiß und
Schwarz in Form von Flächen oder Balken machen die Lichtwirkung des
Weißen bewußt und steigern damit die Wirkung erheblich.
Es bedeutet aber ein vollkommenes Mißverständnis unserer Bestrebungen,
wenn man etwa die weißen Flächen von vornherein festlegen und die Wörter
des Textes in sie hineinpressen wollte. Ebenso falsch wäre es, zu glauben,
die weißen Flächen seien wichtiger als die Wörter des Textes.
Lediglich wenn mandieForm der Typographie ansieht (jede hat eine Form,
wenn auch verschiedener Art und verschiedener Qualität), so zeichnet sich
die moderne Typographie durch die formale Gleichberechtigung der
schwarzen und der weißen Formen aus. Vom Standpunkte der Logik aus ist
selbstverständlich nur die Schrift wichtig.
Das Streben nach intensivster Wirkung (derVerdeutlichung) derschwarzen
Flächen der Schrift und der weißen Hintergrundausschnitte führt oft zu einer
starken Beschränkung des in derfrüheren Typographie stets vorhanden gewe¬
senen Raumrahmens. Häufig ist die neue Form derTypographie nahezu ganz
ohne Rahmen. Man kann natürlich Schrift in den weitaus meisten Fällen nicht
bis ganz an den Papierrand heransetzen; dies hätte Unleserlichkeit zur Folge.
Bei kleinen Drucksachen sind 12 bis 24 Punkt die geringste notwendige Ent¬
fernung, bei Plakaten etwa 48 Punkt. Dagegen werden Formen wie schwarze
oder rote Randflächen und Linien in der Regel bis zum Rand geführt, weil
sie keines Abstands vom Papierrand bedürfen wie die Schrift und nur so
ihre intensivste Wirkung entfalten. Auch Klischees können, die Möglichkeit
genauen Beschnitts vorausgesetzt, am Papierrand abfallen.
Farbe
Im Gegensatz zur alten Typographie, die wie die Formen auch die Farben
vorwiegend dekorativ anwandte, benützt die Neue Typographie die Farbe
funktionell, d. h. sie bedient sich der jeder Farbe eigentümlichen physio¬
logischen Wirkung zur Hervorhebung bzw. Abschwächung einer Gruppe,
eines Photos usw. Weiß hat z. B. die Eigenschaft, das einfallende Licht zurück¬
zuwerfen: zu strahlen. Rot tritt vor jede Farbe, es erscheint stets näher als
i rg endei ne andere Farbe, selbst a IsWeiß. Schwarz dagegen ist die tiefste Farbe,
es tritt am weitesten zurück. Von den anderen Farben ist z. B. Gelb dem Rot,
Blau dagegen dem Schwarz verwandt. (Eine literarische Bedeutung der Farbe
[Rot= Liebe, Gelb=Neid] erkennen wir, als nicht-ursprünglich, nicht an.)
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Wir haben heute eine starke Sympathie für das Licht, also für Weiß, und
dies erklärt sein häufiges Vorherrschen in der Neuen Typographie. Die
Aktivität des Rot entspricht unserer eigenen, und wir geben darum dieser
Farbe vor allen anderen den Vorzug. Der an sich schon starke Kontrast
Schwarz-Weiß kann durch Hinzutreten des Rot außerordentlich gesteigert
werden. (Das ist freilich keine neue Weisheit; vielleicht aber haben wir die
Möglichkeiten dieser Farbstellung schärfer zugespitzt, als frühere Zeiten,
die ebenfalls Schwarz-Rot auf Weiß sehr gern verwandten, wie die Gotik und
das Barock.)
Selbstverständlich ist die Farbstellung Schwarz-Rot nicht die einzig mögliche,
wie vielfach irrtümlich angenommen wird. Infolge ihrer besonders starken
Intensität wird sie aber oft jeder anderen vorgezogen. Die Farbigkeit der
Drucksorte muß im übrigen dem Zweck entsprechen: man wird Besuchs¬
karten nicht dreifarbig setzen und sich bei Plakaten nur selten rpit Schwarz-
Weiß begnügen.
Die reinen, nicht mit Schwarz vermischten Farben Rot, Gelb, Blau genießen
wegen ihrer Intensität den Vorrang, sie schließen a berdie übrigen gemischten
Farbtöne nicht aus.
Schrift
Alle Schriftformen, deren Wesen durch zum Skelett hinzutretende Orna¬
mente (Schraffuren bei der Antiqua, Rauten und Rüssel bei der Fraktur) ent¬
stellt ist, entsprechen nicht unserem Streben nach Klarheit und Reinheit.
Unter allen vorhandenen Schriftarten ist die sogenannte „Grotesk" oder
Blockschrift (die richtige Bezeichnung wäre „Skelettschrift") àis einzig«, d-ie
unserer Zeit geistig gemäß ist.
Die Proklamierung der Grotesk als der Schrift unserer Zeit ist nicht etwa
eine Modeangelegenheit, sie entspricht durchaus den all gemei nenTendenzen,
z. B. denen in der Architektur. Die Zeit ¡st nicht mehr fern, wo nicht nur die
Künstlerschriften (die dieses Los zum Teil schon heute trifft), sondern auch
die „klassischen" Schriften allgemein dieselbe Ablehnung erfahren werden,
die heute etwa den Muschelmöbeln der achtziger Jahre zuteil wird.
Es ist keine Frage, daß die heute vorhandenen Groteskschriften den An¬
sprüchen, die an eine vollkommene Schrift gestellt werden müssen, noch
nicht ganz genügen. Die spezifischen Eigentümlichkeiten dieser Schrift sind
noch kaum herausgearbeitet, die Formen insbesondere der Kleinbuch¬
staben sind noch zu sehr von der humanistischen Minuskel abhängig. Die
meisten, und g erade die neuesten künstlerischen Groteskschriften (z.B. Erbar-
Grotesk und Kabel) zeigen, zu ihrem Nachteil gegenüber den namenlosen
älteren Grotesken, individuell modifizierte Bewegungen, die sie grundsätz¬
lich in eine Linie mit den andern Künstlerschriften stellen. Als Brotschriften
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