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Von unserem Standpunkte- aus 1st es falsch, einen Text so zu gliedern, als ob
in der Mitte der Zeilen besondere Kraftpunkte wären, die diese Anordnung
rechtfertigen würden. Solche sind natürlich nicht vorhanden, denn dieWörter
werden von einer Seite her gelesen (wir Europäer zum Beispiel lesen von
links nach rechts abwärts, die Chinesen von oben nach unten linkswärts). Da
die Entfernung der betonten Stëllen.vom Anfang und vom Ende derWortfolge
meist nicht gleich, sondern verschieden (in immer wechselndem Verhältnis)
ist, ergibt sich von selbst die logische Unrichtigkeit des axialen Aufbaus.
Aber nicht nur die vorgefaßte Formidee axialer Anordnung, sondern alle
anderen auch — etwa die pseudokonstruktiven — sind dem Wesen der Neuen
Typographie entgegengesetzt. J edeTypog raph ie, die von einer vorge¬
faßten Formidee — gleichviel welcher Art — ausgeht, ist falsch.
Die Neue Typographie unterscheidet sich von den früheren da¬
durch, daß sie als erst e versucht, die Erscheinungsform aus den
Funktionen des Textes zu entwickeln. Dem Inhalt des Gedruckten
muß ein reiner und direkter Ausdruck verliehen werden. Seine „Form" muß,
wie in den Werken derTechnik und denen der Natur, aus seinen Funktionen
heraus gestaltet werden. Nur so gelangen wir zu einer Typographie, die dem
geistigen Entwicklungsstadium des heutigen Menschen entspricht. Die Funk¬
tionen des Textes sind der Zweck der Mitteilung, Betonung (Wortwert) und
der logische Ablauf des Inhalts.
JederTeil eines Textes steht zu dem anderen in einem bestimmten, logischen
Betonungs- und Wertverhältnis, das von vornherein gegeben ist. Es kommt
für den Typographen darauf an, ¡hm einen eindeutigen sichtbaren Ausdruck
zu geben: durch Größen- und Stärkenverhältnisse, Reihenfolge, Farbe,
Photographien usw.
DerTypograph muß in höchstem Maße bedacht sein, die Art, wie man seine
Arbeit liest und lesen soll, zu studieren. Es ist zwar richtig, daß man manche
Arbeiten wirklich von oben links nach unten rechts liest. Aber dieses Gesetz
gilt nur ganz allgemein. Die Einladungskarte von Willi Baumeister zeigt es
In reinster Anwendung. Sicher ist, daß wir die meisten Drucksachen stufen¬
weise lesen : erst das Sehlagwort (das keineswegs immer am Anfang stehen
muß) und dann, falls wir die Drucksache überhaupt weiter lesen, nach und
nach, je nach Wichtigkeit, die übrigen Gruppen. Man kann daher mit einer
Gruppe auch an anderer Stelle als links oben beginnen. Wo, hängt ganz
von der Art der Drucksache und dem Text selbst ab. Allerdings dürften Ab¬
weichungen von der Hauptregel, daß man von oben nach unten liest,
gefährlich sein. Man darf also im allgemeinen eine nachfolgende Gruppe
nicht höher setzen als die vorhergehende (die logische Aufeinanderfolge
und Abhängigkeit der Textgruppen voneinander vorausgesetzt).
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AU-AUSSTELLUNG
STUTTGART 1924 E.V.
EINLADUNG
ZUR TEILNAHME AN DER ERÖFFNUNGSFEIER DER
BAU ш
Ausstellung
STUTTGART 1924
AM SONNTAG, DEN 15. JUNI 1924, MITTAGS 12 UMR
IN DER HALLE DES HAUPTRESTAURANTS DER
AUSSTELLUNG (EINGANG SCHLOSS-STRASSE)
v.JEHLE
PRÄSIDENT DES WÙRTT.
LANDESGEWERBEAMTS
ES WIRD HÖFL."GEBETEN.
DIESE KARTE AU EINGANG
VORZUZEI6EN
WILLY BAUMEISTER: Einladungskarte. Beispiel der Leserichtung.
Bei der Durcharbeitung eines Textes nach solchen Gesichtspunkten ergibt
sich in den allermeisten Fällen ein anderer Rhythmus als der der bisherigen
zweiseitigen Symmetrie: der Rhythmus der Asymmetrie. Die Asy m metrie
ist der rhythmische Ausdruck Funktioneller Gestaltung. Darum
das Vorherrschen der Asymmetrie in der Neuen Typographie. Neben ihrer
höheren Logik besitzt eine asymmetrische Form den Vorteil, daß ihre Ge¬
samterscheinung optisch bedeutend wirksamer ¡st als die symmetrische.
Nicht zuletzt 1st die sich bewegende asymmetrische Form auch ein-Ausdruck
unserer eigenen Bewegung und der des heutigen Lebens; es ist ein Symbol
der Umwandlung der Lebensformen, wenn auch in der Typographie an die
Stelle der (symmetrischen) Ruhe heute die (asymmetrische) Bewegung
getreten ¡st. Doch darf diese nicht zur Unruhe, zum Chaos ausarten. Das
Streben nach Ordnung kann und soll auch in derasymmetrischen Gestaltung
zum Ausdruck kommen. Erst in ihr ist eine bessere, natürlichere Ordnung
möglich als in der symmetrischen Form die ihr Gesetz nicht aus sich selbst,
sondern von außen erhält.
Weiterhin macht das Prinzip der asymmetrischen Gestaltung die Neue Typo¬
graphie unbegrenzt abwandelbar. Sie entspricht auch hierin der Viel¬
fältigkeit des modernen Lebens, ganz im Gegensatz zu der einfältigen
Mittelachsengruppierung, die außer der Möglichkeit des Schriftwechsels —
einer bloßen Äußerlichkeit — wesentliche Variationen nicht zuließ.
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