(der Schriftwahl, der Schriftmischung, des Ornaments) stehen im Vorder¬
gründe des Interesses. Daher ¡stauch die Geschichte derTypographle seit
Manutius nicht so sehr eine Entwicklung zu größerer Klarheit und Reinheit
der Erscheinung (einzige Ausnahme ist dieZeit der Didot, Bodonl, Baskerville
undWalbaum),alseine Begleiterscheinung der Entwicklung der historischen
Schriftarten und Ornamente.
Es war erst unserer Zeit vorbehalten, dem Problem der „Form" gegenüber
eine lebendige Einstellung zu gewinnen. Während man bisher die Form als
etwas Äußeres, als ein Produkt der „künstlerischen Phantasie" ansah
(Haeckel unterstellte sogar der Natur solche „künstlerischen Absichten" in
seinen „Kunstformen in der Natur"), sind wir heute durch ein erneutes
Studium der Natur und vor allem der Technik (die nur eine zweite Natur
¡st) der Erkenntnis ihres Wesens beträchtlich nähergekommen. Natur
und Technik lehren uns, daß die „Form" nichts Selbständiges ist, sondern
erwächst aus der Funktion (dem Zweck, der Bestimmung), dem verwen¬
deten Material (organische oder technische Stoffe) und der organischen
beziehungsweise technischen Konstruktion. So sind die wunderbaren Formen
der Natur und die nicht weniger wunderbaren der Technik entstanden. Man
darf die Formen der Technik für ebenso „organisch" (im geistigen Sinne)
erklären, wie die der Natur. Aber auch die Formen der Technik sind viele
gewohnt, nur äußerlich zu sehen und die „Schönheit" — eines Flugzeugs,
eines Autos, eines Dampfers — zu bewundern, statt zu erkennen, daß
ihre vollendete Erscheinung nichts ist als der präzise, ökonomische Ausdruck
ihrer Funktion. Technik und Natur bedienen sich in ihrer Gestaltung der
gleichen Gesetze der Ökonomie, der Präzision, der geringsten Reibung usf.
Während nun die Technik ihrer Bestimmung nach nie Selbstzweck, sondern
nur Daseinsmittel sein soll, also nur indirekt an dem geistigen Leben des
Menschen Anteil hat, erheben sich die übrigen Gebiete menschlicher Ge¬
staltung durch ihre geistige Natur über das Rein-Zweckmäßige der bloßen
technischen Formen. Aberauch siedrängen, dem natürlichen Gesetzfolgend,
zu immer höherer Klarheit und Reinheit der Erscheinung. So befreit sich
die Baukunst von dem Fassadenornament und den „verzierten" Möbeln und
entwickelt ihre Formen aus den Funktionen des Baues - nicht mehr von
außen nach innen, wie es die Fassadengesinnung der Vorkriegszelt vor¬
schrieb, sondern von innen nach außen, wie es natürlich ist. So befreit sich
auch die Typographie von der bisherigen, formalistisch-äußerlichen Er¬
scheinung, von nur scheinbar „traditionellen", längst erstarrten Schemen.
Wir erblicken in der Nachfolge historischer Stilarten, wie sie die Reaktion
nach dem Jugendstil mit sich brachte, nichts als den Beweis schöpferischer
Unfähigkeit. Es kann und darf heute nicht mehr darauf ankommen, die
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zeitbedingten typographischen Meisterleistungen-früherer Jahrhunderte er¬
reichen zu wollen, indem man sie nachäfft. Unsere Zeit mit ihren anderen
Aufgaben, den oft wesentlich veränderten Mitteln und mit ihrer hochent-
wickeltenTechnik zwingt von selbst zu neuen, anderen Erscheinungsformen.
Heute noch in der Gutenberg-Bibel, deren große historische Bedeutung
unbestritten bleibt, ein „nie wieder erreichbares" Ideal zu sehen, ist ein naiver,
unbegründeter Romantismus, den fallen zu lassen längst an der Zeit ist.
Wenn wir uns der gewiß an sich bedeutenden Leistungen früherer Zeiten
„würdig erweisen" wollen, so müssen wir ihnen unsere eigenen, aus unserer
Zeit heraus geborenen Leistungen entgegenstellen. Sie werden nur dann
.klassisch" sein können, wenn sie unhistorisch sind.
Das Wesen der Neuen Typographie ¡st Klarheit. Dies stellt sie in den
bewußten Gegensatz zu der alten Typographie, die auf „Schönheit" ausgeht
und deren Klarheit nicht das heute erforderliche äußerste Maß erreicht.
Diese äußerste Klarheit ist notwendig, weil die vielfältige Inanspruchnahme
des heutigen Menschen durch außerordentliche Mengen von Gedrucktem
zu höchster Ökonomie des Ausdrucks zwingt. Das sanfte Pendeln zwischen
ornamentalen Schriften, der (äußerlich aufgefaßten) „schönen" Erscheinung
und der „Verzierung" durch wesensfremde Zutaten (Ornamente) kann nie
eine reine Form, wie wir sie fordern, hervorbringen. Vor allem bewirkt die
schwächliche Anklammerung an den Popanz der Mittelachsengruppierung
die hochgradige Starrheit der bisherigen Typographie.
In der altenTypographie ist der äußere Aufbau der Einzelgruppe dem Prinzip
derMittelachsengruppierunguntergeordnet.lndem einleitenden historischen
Aufsatz habe ich dargelegt, daß dieses Prinzip mit der Renaissance auf¬
kam und seitdem nicht verlassen worden ist. Das rein Äußerliche dieses
Formgesetzes wird angesichts echter Renaissance- und Barocktitel offenbar
(sieheSeite17und18). Dortwerden Hauptbegriffe ganzwillkürlich zerschnitten;
die logische Gliederung, die sich zum Beispiel in derVerwendung verschie¬
dener Schriftgrade äußern soll, wird der äußeren Form ganz rücksichtslos
geopfert, indem die Hauptzeile nur Dreiviertel des Hauptbegriffs zeigt, der
Rest dagegwi-mehrere Grade kleiner in die nächste Gruppe übernommen
wird. Solche Dinge gibt es heute freilich kaum noch, aber die Starrheit
axialer Anordnung läßt eben kaum eine Durcharbeitung nach logischen
Gesichtspunkten in dem Grade zu, wie sie das heutige Leben fordert. Als
unsichtbares künstliches Rückgrat zieht sich die Mittelachse durch das
Ganze und täuscht ebenso innere Haltung vor, wie der wilhelminische fünf
Zentimeter hohe steife Kragen. Selbst in der guten Mittelachsenkomposition
wird der Inhalt dem „schönen Zeilenfall" geopfert, das Ganze ist eine „Form",
die vorausgewußt ist und darum unorganisch sein muß.
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