WALTER
DEXEL:
Glasbild
1925 -IV
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Epochen. Auch die Kunst der Renaissance kann man ja nicht von dem Stand¬
punkt aus betrachten, den man etwa der romanischen gegenüber einnimmt.
Die Grundeinstellung der gesamten neuen Kunst ist, daß sie keine „nach¬
ahmende" Kunst mehr sein will. Die frühere Kunst ist ohne das (wirkliche
oder gedachte) Objekt nicht denkbar. Heute hat sich die Malerei von dieser
Fessel befreit, sie bemüht sich um eine ursprüngliche, primäre Gestaltung
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des Bildes aus Fläche, Farbe und Form und ihren gesetzmäßigen Bezie¬
hungen. Der Oberherrschaft des Gegenständlichen, die den Naturalismus
kennzeichnet, stellt die neue Malerei die Oberherrschaft der Form und des
Geistigen entgegen (Hildebrandt). In dem neuen Bild darf man also nicht
eine vielleicht entstellte Naturform erblicken, sondern eine wahrhaft neue
Schöpfung, die von der Natur nicht abhängig, sondern ihr als eine andere
Natur mit eigenen Gesetzen zugeordnet ist. Mehr als alle frühere Kunst
setzt die neue Malerei Schöpferwillen und bildnerische Kraft voraus. Höchste
Klarheit und Reinheit ist ihr Ziel. Sie bedient sich in ihrer Gestaltung der
exakten geometrischen Formen und schafft so die ästhetische Paraphrase
unserer technisch-maschinellen Zeit. Sowenig exakt-geometrische Formen
rein in der Natur erscheinen, ist auch die Farbigkeit der neuen Malerei
nicht, wie ein sehr großerTeil derfrüheren Malerei, aus der Natur abgeleitet.
Auch sie wird nach einer autonomen, nicht von der Natur abhängigen Ge¬
setzmäßigkeit entwickelt. Was Wunder, daß diese Gestaltungen den an etwas
ganz anderes gewöhnten unbefangenen Beschauerzunächst verblüfften, wenn
nicht gar abstießen? Denkfaule und Übelgesinnte versuchen noch Immer, sie
anderen verächtlich zu machen und als Unsinn hinzustellen. Es sind die¬
selben, vor deren Stockhieben einst Manets Olympia durch die Polizei ge¬
schützt werden mußte, ein Bild, das heute zu den kostbarsten Stücken des
Louvre gehört. Ihr Geschwätz ist zu leer und unwichtig, als daß man darauf
eingehen könnte.
Wir haben heute erkannt, daß Kunst nicht in äußererNachahmung der Natur,
sondern in einer Gestaltung besteht, die ihre Gesetze aus der Tektoni k,
nicht der bloßen äußeren Erscheinung, der Natur ableitet. Die Ingenieurin
Natur baut ihr Werk mit ebenderselben Ökonomie, Technik und Folgerichtig¬
keit auf wie wir Heutigen das Bild. Wir haben in der neuen Gestaltung den
Zwiespalt zwischen Sein und Schein aufgehoben, denn beide sind identisch.
Die neue Malerei bedeutet, was sie 1st: eine ungegenständliche reine male¬
rische Harmonie.
Sie wendet sich vor allem an das Auge und verzichtet auf die faden
Ersatzmittel der Wirkung durch Tragik oder Frohsinn. Sie verweist diese
Gefühle in das Gebiet des Privat-Menschlichen und hält sie von der Kult¬
form des Bildes fern. Hierin zeigt sich, daß sie einer kollektiven Geistes¬
sphäre entwachsen ist.
Es ergibt sich aus der vollkommen auf die Gegenwart gerichteten Gesinnung
der neuen Maler von selbst, daß sie sich bei der Herstellung des Bildes mit
Vorliebe neuer Techniken bedienen, wie z. B. des Spritz- und Emaillierverfah¬
rens usw. Ihre Absicht geht oft auch auf die Herstellung eines Modellbildes,
d. h. eines Bildes, das nach Technik und Form Modell zur Vervielfältigung
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