DIE NEUE KUNST
Zum Verständnis des Werdens und Wesens der neuen Typographie kann die
Kenntnis der Entwicklung der neueren Malerei und der Photographie, be¬
sonders der der jüngsten Epoche, vieles beitragen. Denn die Gesetze ge¬
staltender Typographie stellen nichts anderes dar als die Nutzanwendung
der von den neuen Malern gefundenen Gesetze der Gestaltung überhaupt,
Der nachfolgende Abschnitt versucht da rum in großen Linien eine Einführung
In die Geschichte der neueren malerischen Entwicklung zu geben.
Im Zeitalter der Gotik war die Wandlung des früheren Freskobildes, der
Wandmalerei, zum beweglichen Tafelbild erfolgt. Die Malerei hatte damals
noch eine soziale Funktion, sie war eine Kultform und Ausdruck der reli¬
giösen Weltanschauung des damaligen Menschen. Mit dem Verfall dieser
Einstellung in der Renaissance, Ihrer Wandlung vom Jenseits zum Diesseits,
geht eine Wandlung auch des Bildinhalts vor sich. Das Tafelbild der Gotik,
das Altarbild, hatte keine grundsätzliche Veränderung des Inhalts gegenüber
der Freskomalerei mit sich gebracht. Trotz gewissen großbürgerlichen
Tendenzen war es ein religiöses Kultbild geblieben. Die feudale Lebensform
der Renaissance bringt die Loslösung des Bildinhalts von den Vorschriften
der Kirche mit sich. Auch wenn religiöse Vorwürfe benutzt werden, bleiben
sie doch nurVorwand des Ausdrucks des neuen Lebensgefühls, ein Spiegel
derLebensart der herrschenden Klasse: derfeudalen Herren. Der„Künstler",
ehedem Höriger.der Kirche, wird in eine höhere soziale Sphäre gehoben:
er führt in der Renaissance und den ihr folgenden Epochen das Leben der
großen Herren, und in seinen Malereien spiegelt sich deren Ideologie.
MANET: ImTreibhaus
(Verlag der
Photographischen
Gesellschaft,
Berlin - Charloltenburg 9)
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PAUL CÉZANNE: Landschaft
(Verlag der Photograph. Gesellschaft,
Berlin-Charlottenburg 9)
Diese Situation kennzeichnet alle Malerei und „Kunst" bis zur französischen
Revolution. Der ihr folgende Zeitabschnitt, dessen Ablauf wir noch gerade
miterleben, wird durch die neue Klasse des zur Herrschaft gekommenen
Bürgertums und deren Lebensform bestimmt. Im Anfang imitiert die bürger¬
liche Malerei die Lebensformen und Anschauungen der Feudalklasse
(Klassizismus: Ingres) und gelangt erst etwa um 1830 zu einem eigenen
Ausdruck (die Romantiker: Runge, C. D. Friedrich). Aber während bisher
das Motiv der Malerei rein ideologisch bestimmt wurde, tritt von jetzt an
das „Rein-Malerische" immer mehr in den Vordergrund; das Motiv verliert
von jetzt an mehr und mehr an Bedeutung.
In dieser Entwicklung hat die um 1830 gemachte Erfindung der Photographie
eine wichtige Rolle gespielt. Ihr Dasein schuf die Möglichkeit einer neuen
Problemstellung. In der vorausgegangenen Zelt hatten hauptsächlich zwei
Faktoren die Malerei bestimmt: das rein Malerische— die farbige Gestaltung,
und das Sujet—das Motiv, die Darstellung, dem sie untergeordnet ist. Die
repräsentativen, ideologischen underzählenden Aufgaben derMalerelwerden
i m 19. Jahrhundert von anderen Gebieten übernommen. Der Weg der neueren
Malerei bedeutet die allmähliche Befreiung vom Sujet, eine Entwicklung vom
Motiv weg zur reinen Farbgestaltung. Dieser Weg lag offen, nachdem In
der Photographie das Mittel der exakten mechanischen Aufzeichnung der
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