Ohne Zweifel waren die Produkte des Buchgewerbes in den letzten Jahr¬
zehnten des 19. Jahrhunderts wirklich fade und dürftig geworden. Die, wie
man heute sagt, „unverstandene" Stilnachfolge z.B. der deutschen Renais¬
sance in München hatte offenbar auch nicht befriedigen können. So mußten
die Anschauungen Morris' in dieser Zeit unbedingt belebend wirken. Ihm
hauptsächlich verdankt der „Jugendstil" seine Entstehung.
Der Jugendstil stellt die erste Bewegung dar, die sich die Befreiung von
der Nachahmung der historischen Stile zur Aufgabe setzt. Der Kunstgewerbe¬
schulstil der siebziger und achtziger Jahre sollte überwunden werden, die
Form sich rein aus dem Zweck, der Konstruktion, dem Material des Gegen¬
standes ergeben. Die Produkte eines solchen konsequenten Schaffens sollten
sich harmonisch In die Formen des modernen Lebens einfügen. DerVersuch
der Neugestaltung erstreckte sich schließlich, von den einfachen Gebrauchs¬
gegenständen ausgehend, auch auf den Wohnraum, auf die Architektur und
sogar auf die Weltanschauung. Die Führer dieser Bewegung waren Maler:
van de Velde, Eckmann, Behrens, Obrist u.a. in Deutschland, Hoffmann in
Wien ; auch in den andern Ländern Mitteleuropas finden sich Vertreter. Man
weiß, daß sich diese Bewegung kurz nach der Jahrhundertwende verlor.
Wesentlich an dieser Bewegung ¡st, daß sie dem neuen Lebensgefühl, wie
es sich damals ankündigte, einen souveränen Ausdruck geben wollte. Der
heldenhafte Versuch dieser Menschen ¡st trotz des in vielen Punkten rich¬
tigen Programms daran gescheitert, daß die Notwendigkeiten der Zeit noch
nicht exakt erfaßt werden konnten, und an dem Irrtum der Ableitung der
Kunstformen aus der Natur. Man sah das Hauptziel zu sehr in einer neuen
Form, einer neuen Linienführung (van de Velde: La ligne, c'est une force-
Die Linie ist eine Kraft), also einer ästhetischen Erneuerung, einer Änderung
der Erscheinungsform statt in der Konstruktion des Gegenstandes aus
den Bedingungen seiner Funktion, seiner Materialien und seiner Bearbei¬
tungsmethoden heraus. Die Ideen dieser Künstler lagen allzusehr in der
Zukunft, waren im großen ganzen unklar und konnten aus Mangel an Auf¬
gaben In der damaligen Zeit nicht verwirklicht werden. Nach einigen Jahren
verlief sich die Bewegung in einem vom Jugendstil beeinflußten Neubieder¬
meier, also einer abermaligen Wiederholung früherer Stilarten.
Die Schule Morris' und des Jugendstils wirkten günstig auf die Qualität
dieser neuen Nachahmung. Das Buchgewerbe verdankt Eckmann, einem
ungemein fähigen, leider frühverstorbenen Vertreter des Jugendstils, die
Eckmanntype, eine Art Verbindung von Fraktur und Antiqua, deren Linien¬
führung vom Pinsel und von Pflanzenformen beeinflußt erscheint. Bald dar¬
auf schuf Behrens seine Gotisch für die Gebr. Klingspor. Der Ausdruck der
neuen Biedermeierei auf.dem Gebiete des Schriftschnitts sind die frühen
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Wieynckschriften : seine fette Reklamekursiv und die Trianon. Auch die ersten
Buchschöpfungen der Buchgewerbekünstler fallen in diese Zelt. Die Gestal¬
tung des Buches als Ganzes geht den Weg der allgemeinen Entwicklung von
den revolutionären Formen desJugendstils zum modernisierten Biedermeier,
und von dort schrittweise über Erscheinungen wie Rudolf Koch und Ehmcke
zu der vollendeten Nachempfindung der klassischen Stile durch Persönlich¬
keiten wieTiemann und Weiß. Die geschlossene Satzanordnung, wie sie der
Jugendstil mit sich gebracht hatte, wird kurz vor dem Kriege entsprechend
der allgemeinen Wandlung zur erneuten Bevorzugung der klassischen Stile
von der Mode des sogenannten Aufgelösten Satzes abgelöst. Ihr bedeutendster
Vertreter ist der Leipziger Carl Ernst Poeschel. Der Kastensatz war an sich
wirklich eine Erneuerung und ohne historische Vorbilder. Er ging Indessen
zu sehr von vorgefaßten Formideen aus, und der Inhalt der Typographie
erscheint fast stets vergewaltigt. Der Aufgelöste Satz resultiert aus dem er¬
neuten und sehr gründlichen Studium der letzten klassischen Zeit, der des
begi nnenden19. Jahrhunderts. Die klassischen Schriften werdenvonCarl Ernst
Poeschel' neu entdeckt. Die Insel mit Otto Julius Bierbaum hatte hier schon
wesentliche Vorarbeiten geleistet. Anstelle der schlechten historisierenden
Schriften aus dem Ende des19.Jahrhunderts verwendet man dleechten histo¬
rischen Formen. Die Schriftkünstler ergeben sich dem Studium dieser For¬
men: nach den Sturm-und Drangformen des Jugendstils wird dieSchrift immer
gemäßigter, bis sie schließlich in den nahezu ganz klassischen Formen der
Tlemann-Antiqua, der Ratiolatein,Tiemann-Gotisch, Weiß-Antiqua ihren Höhe¬
punkt und Ihr Ende erreicht. In den Schriftproben der Gießereien wirkt sich
der Kastensatz, wenn auch in gemilderten Formen, noch bis in die letzten Vor¬
kriegsjahre hinein aus. Die zunehmende Verwendung klassischer Schriften
zwang zu der Ihnen entsprechenden klassischen Satzweise,d.i.demAufgelösten
Satz. Hochentwickelte ErzeugnissedieserAuffassung können sich naturgemäß
nur unwesentlich von ihren Vorbildern unterscheiden. Es soll nicht geleugnet
werden, daß eine sehr hohe Qualität erreicht wurde, und daß es eines sehr
kultivierten Geschmacks bedurfte, um zu Leistungen zu gelangen, die dem Vor¬
bilde in dem geforderten Maßeformal-qualitativentsprachen. DerUnterschied
aberzwlschen diesen modernen Erscheinungen und ihren klassischen Vorbil¬
dern ¡st, daß dieVorbilder der wirkliche Ausdruck ihrerZeit sind, während die
Nachahmungen der Ausdruck eines zwar höchst feinfühligen Eklektizismus
sind, also einer Einstellung, die der Gegenwart fremd gegenübersteht
• Und zwar schon längst vor dem Kriege. Mendelsohn hat unrecht mit seiner Behauptung, daß Jacob Hegner
der Vater dieser Reaktion sei. Allerdings hat wohl niemand so ausschließlich antike Schriften verwendet wie
Hegner, der aber erst nach dem Kriege zu drucken begann. Die Wiederverwendung der klassischen Schriften
(Unger-Fraktur, Walbaum-Anliqua, Breitkopf-Fraktur) setzte indessen schon um 1911 ein.
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