mit typographischen Mitteln vortäuschen zu können. Die Linienkünstelei
den 70er Jahre, die Zeit des Rahmenbaus der 80er und die schlimme „freie
Richtung" der90erJahre sind die letzten Etappen des Verfalls. Hand in Hand
Beispiel der „freien Richtung"
Aus dar Mappe .Internationaler Graphischer Muster-Austausch das
Deutschen Buchdrucker-Vereins" [1889)
mit diesem Verfall der Gesamterscheinung des Druckwerks geht das Sinken
der Qualität der gewöhnlichen Drucktype. Die französische Antiqua und die
durch die in den 70erJahren auftretende eklektischeVorliebe für die Renais¬
sance, wieder ausgegrabene Mediäval-Antiqua, nehmen fade, farblose, unaus¬
gesprochene Formen an. So entsteht derTypus der heutigen sog. Gewöhn¬
lichen Antiqua und der der sog. Gewöhnlichen Mediäval-Antiqua.
Die Gründe fürdiesen allgemeinenVerfall liegen auf verschiedenen Gebieten.
Daß sein Anfang in den Beginn des technisch-maschinellen Zeitalters fällt,
beleuchtet seine tieferen Ursachen. DieErfindungen der Lithographie und der
Photographie, der Photolithographie, der Schnellpresse haben den Verfall
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zunächst entscheidend begünstigt. Die umwälzende Kraft dieser Erfindungen
stellte ihre Zeitgenossen vor neue Möglichkeiten, deren eigengesetzliche
Bindungen nicht in dem gleichenTempo, wie die Erfindungen einander folg¬
ten, erfaßt wurden, vielleicht auch nicht erkannt werden konnten. Zugleich
verwirrte die Erscheinung der durch die Erfindungen ermöglichten neuen
typographischen Gebilde: der Zeitungen und Zeitschriften, die typographi¬
sche Sicherheit. Als schließlich die Strichätzung erfunden wird und ihr der
um diese Zeit auf eine ungeahnte Höhe gebrachte Reproduktionsholzschnitt
weichen muß, wird die allgemeine Unsicherheit eine vollkommene. Diese
Tatsachen auf dem Gebiete' des Druckwesens bilden indessen nur die Par¬
allele zu den allgemeinen kulturellen Verfallserscheinungen.
Besonders das aus dem Deutsch-Französischen Kriege siegend hervor¬
gegangene Deutschland wird von maschinellen Surrogaten handwerk¬
licher Leistung überflutet, die seinerGroßmannssucht, wie sie das siegreiche
Ende eines Krieges mit sich bringt.entgegenkamen und begeistertaufgenom¬
men wurden. Man ¡st auf diesen Tinnef sogar sehr stolz gewesen. Ahnlich
wie den Raffkes unserer Nachkriegszeit ging dem damaligen Menschen das
Gefühl für Echtheit völlig ab, wie dieser ließ er sich durch den falschen
Glanz jener Scheußlichkeiten blenden.
Der ganze Zeitabschnitt ist einerseits durch eine sklavische und völlig ober¬
flächliche Nachfolge aller möglichen alten Stile, andererseits durch eine
Willkürlichkeit der Formung charakterisiert, die ohnegleichen ist. Man baute
z. B. je nach Mode und Laune ein Rathaus im pseudogotischen Stil (München)
oder eine ,,romanische" Villa.
Ähnliche Zustände machten sich auch in andern Ländern, wenn auch
wohl längst nicht so arg, breit. Von ihnen angewidert, nahm gegen Ende der
achtziger Jahre der Engländer William Morris aus einer falschen Perspek
tive heraus den Kampf gegen die Maschine und die Maschinenproduktion auf.
Morris sah das Ideal in der Beseitigung der Maschinenarbeit durch eine
erneute Belebung der Handarbeit und der Wiederherbeiführung früherer
Zeiten. Er unterbrach mit seiner Tat die natürliche Entwicklung und wurde
zu m Vater des,.Kunstgewerbes". Er ist auch der erste Seh öpFer einer Künstler¬
schrift gewesen: der auch in Deutschland bekannten Morris-Gotisch. In ihr
lehnte er sich eng an ein gotisches Vorbild an. Er druckte mit seinen Typen
Bücher, an denen alles Handarbeit war. Damit gab er den Anstoß zu einer
Entwicklung, deren letzte Ausläufer, die deutschen Pressen, zum grüßten
Teil erst mit der Inflationszeit verschwanden. Als Schöpfer der ersten Künstler¬
schrift ist Morris zugleich der Prototyp des Buchgewerbekünstlers, wie er
in der Geschichte des Buchgewerbes etwa seit dem Anfang unseres Jahr¬
hunderts, hauptsächlich in Deutschland, auftritt.
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