möglichkeiten des modernen Gedichts aus der Sphäre der Akustik in die
der Optik zu verlegen.
So schrieb der Franco-Pole Guillaume Apollinaire seine „Calligrammes" in
„gegenständlicher" Form. Seine Verse beschreiben Konturen von Brillen,
Uhren, Vögeln, Blumen, Pferden, Menschen usw. Ihre Veröffentlichung war
indessen von der photome'chanisch erzeugten Reproduktion der Handschrift
abhängig.
Den weiteren Schritt zu einer ausgesprochen typographischen Gestaltung
der Dichtung machte der italienische Futurist F. T. Marinetti in seinem Buch
„Les mots en liberté futuristes" (1909). Durch die Anwendung verschiedener
Fettigkeitsgrade und verschiedener Schriften, ihre besondere räumliche
Stellung, die Wiederholung von Konsonanten und Vokalen und eine neu¬
artige Verwendung dertypographischenZeichen versucht er, die phonetische
Wirkung des gesprochenen Worts durch die eindringliche optische Wirkung
der typographischen Formen zu ersetzen. Das gedruckte Wort als Vermittler
derVorstellung istum die spezifisch optlscheWlrkungseinertypographischen
Gestalt bereichert worden. Alle früheren Bücher rechnen mit dem Vorlesen
oder dem geruhsamen Lesen in weltferner Einsamkeit. Das Buch des heu¬
tigen, aktiven Menschen, das mit dem Auge als seinem bevorzugten Auf¬
nahmeorgan rechnet, ist von Marinetti erstmalig gestaltet worden.
Neben dem reinen „Buchstaben"-Buch entsteht eine neue Buchform, das
„Bilder"-Buch, bzw. eine Kombination beider Formen. In den illustrierten
Zeitschriften und Magazinen hat sich der moderne Mensch eine neue Quelle
des Genusses verschafft. Die überpersönliche Klarheit und Exaktheit der
Reporterphotographie unterrichtet oft weit besser und schneller als ein das
gleiche Thema behandelnder Artikel. In vielen Zeitschriften überwiegen be¬
reits die Photos; der Text ¡st ganz zurückgetreten. Das frühere Verhältnis
¡st in sein Gegenteil verkehrt worden: illustrierten früher die wenigen Bilder
den Text (100 Zeilen - ein Bild), so beschreibt heute der geringe Text die
Bilder (10 Bilder — 10 Zeilen). In einer bekannten neuen Kunstgeschichte
sind die Bilder der Hauptteil; Über Deutschland und viele andere Länder
unterrichten große Bilderbücher mit photographischen Aufnahmen (Orbis
Terrarum), in denen der einzige Text das kurze Vorwort ¡st.
Nach den Futuristen haben die Dadaisten in ihren Zeitschriften die Möglich¬
keiten der typographischen Technik ausgebaut. Die von Kurt Schwitters
herausgegebene Zeitschrift „Merz" zeigte typographische und verschieden¬
artige photographische Aufbauelemente, die durch den gestaltenden Typo¬
graphien zu einer Einheit gebunden sind. In den dadaistischen Gestaltungen
ist die bisherige Fremdheit der Abbildungen im Buche verschwunden, das
Klischee, ob nach einer Photographie oder einem manuellen Bild, ist
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EL LISSITZKY (1922-1923):
Das aufgeschlagene Majakowsky-Buch (Lisslteky phot.)
integrierender Bestandteil der Buchgestalt geworden.* Die spezielle (zum
Beispiel scheinbar plastische) Form des Einzelklischees ist kein Hindernis
mehr für ihre Einordnung. Auf den einzelnen Seiten wie im ganzen resul¬
tiert die Harmonie des Buches aus der kontrastierenden Verwendung großer
und kleiner, „plastischer" und flächiger Elemente, der Verschiedenartigkeit
• Die Künstler der Vorkriegszeit z. B. verneinten die Möglichkeit einer künstlerischen Einheit des Buches
bei Verwendung von Autotypien. Das steht zu den Notwendigkelten unserer Zeit Im Widerspruch, und die
tatsächliche Entwicklung ist denn auch über diese Anschauung längst hinweggegangen : Büttenpapier und
handkolorierte Holzschnitte gehören der Vergangenheit an.
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