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Cees W. de Jong
EINLEITUNG
Die ideale Schrift
von Cees W. de Jong
Was für einen Charakter sollte eine Schrift haben,
und welche inhaltlichen Aspekte sollten von ihr trans¬
portiert werden? Handelt es sich bei dem Kunden
um eine Zeitung? Oder entwirft man eine Schrift
aus eigenem Antrieb, „nur so zum Spaß"? Oder verlangt
eine Firma einen neuen Hausstil für ihre Kommuni¬
kationsstrategie?
Nach dem 15. Jahrhundert hatten Typografie und Bruchdruck sich lange
Zeit kaum verändert, bis neue Innovationen einen gewaltigen Wandel
einleiteten. Der Einsatz von Maschinen sorgte für eine unaufhaltsame
Verdrängung des Handwerks, zugleich erforderte die steigende Nachfrage
nach Druckerzeugnissen ständig neue und bessere technische Ausrüstun¬
gen. Handwerkliche Qualitätsarbeit verlor zunehmend an Bedeutung, da
nun wenige Aufseher und Hilfskräfte Arbeiten ausführen konnten, für die
früher Hunderte von ausgebildeten Fachkräften benötigt wurden.
Die Form unserer Schrift hat sich aus der fließenden Bewegung beim
Schreiben mit der Hand entwickelt. Serifen bei Druckschriften waren eine
logische Folge. Erstaunlicherweise hat sich die Typografie jahrhundertelang
nur in Form von Serifenschriften entwickelt. Erst 1819 tauchten in England
erste Beispiele eines neuen, serifenlosen Stils auf.
Im 19. Jahrhundert wurde Typografie, Gestaltung und Qualität von
Druckerzeugnissen meist wenig Wert beigemessen. Drucker stellten Blätter
her, die die von ihnen angebotenen Schriftarten in zahlreichen Schrift¬
größen und Kombinationen vorführten. Abgesehen von einigen oberfläch¬
lichen Nachbildungen traditioneller Typografie gab es kaum etwas, das
auf ein Interesse an schön gestalteten Seiten oder Schriften hindeutete.
Matthieu René Radermacher Schorer brachte 1951 in seinem Bijdrage tot
de Geschiedenis van de Renaissance der Nederlandse Boekdrukkunst (Beitrag
zur Geschichte der Niederländischen Buchdruckkunst seit der Renaissance)
die zu jener Zeit herrschende Trostlosigkeit wie folgt auf den Punkt: „Ver¬
glichen mit Inkunabeln ist bei Büchern aus dem 19. Jahrhundert die Schrift
glanzlos und ohne Charakter, nicht selten beschädigt und schlecht gedruckt;
die Anordnung ist verwirrend, die Farbe verblasst, das Papier von schlech¬
ter Qualität, der Rücken mit Goldprägung ohne ansprechende Ornamente
versehen ... und es wurde dickeres Papier benutzt, damit die Bücher
umfangreicher aussahen, als sie in Wirklichkeit waren."
Im 19. Jahrhundert kam es auf dem Gebiet der Typografie und der Druck¬
technik zu einschneidenden Veränderungen. 400 Jahre lang hatte der Blei¬
satz die Möglichkeiten des Machbaren begrenzt. Mit dem Aufkommen neuer
Technologien änderten sich Typografie, Gestaltung und Druck, und es ent¬
standen neue, vom den bisherigen abweichende Stile und Traditionen.
In der Folge der Reformbewegung William Morris' und der späteren
Leistungen Peter Behrens' spaltete sich die Entwicklung in eine subjektiv¬
expressive Richtung auf der einen und eine funktionale oder elementare
Richtung auf der anderen Seite.
Die expressive Position verkörpert sich in den Arbeiten Rudolf Kochs,
dessen Neuerungsbemühungen sich als eine Rückkehr zum Individua¬
lismus vorindustrieller Zeit darstellten.
Im Januar 1898 erschienen in der Fachpublikation Deutscher Buch- und
Steindrucker Inserate der beiden in Stuttgart ansässigen Firmen Berthold
und Bauer & Co., in denen sie die Schriftart Akzidenz-Grotesk präsentier¬
ten. Insofern war die betreffende Schrift zur Blütezeit des Konstruktivis¬
mus, als Bewegungen wie De Stijl, Bauhaus und Dada ihr Erscheinungsbild
mit großem Erfolg aufgriffen, bereits über 20 Jahre alt. Als einer ihrer Haupt¬
einflüsse stand die Akzidenz-Grotesk Pate bei der Geburt der „Schweizer
Typografie". Wie ehedem zeichnet sie sich durch eine hohe visuelle Qua¬
lität aus und erinnert daran, dass Schrift nicht gleichförmig sein muss, um
gut leserlich und ansprechend zu sein. Im Gegenteil: Gerade die Unter¬
schiede zwischen den einzelnen Typen sorgen für ihre Leserlichkeit.
Die funktionale Typografie wurde vor allem in Deutschland, Ungarn,
der Sowjetunion und den Niederlanden entwickelt. Die Reduzierung von
Ornamenten und die Verwendung typografischer Grundelemente sollte
dem Wunsch nach einem in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht
besseren, zukunftsorientierten Design entgegenkommen. Hauptmerkmale
dieser „neuen Typografie" waren serifenlose Schriften, Kleinbuchstaben
und eine asymmetrische Spationierung.
Eric Gill erhielt von dem Buchhändler Douglas Cleverdon den Auftrag,
ein Schild mit einer serifenlosen Beschriftung zu malen. Während eines
Besuchs bei Cleverdon wurde Stanley Morison, der künstlerische Berater
der Monotype Corporation, auf das Schild aufmerksam und kam zu der
Ansicht, dass Gill eine ähnliche serifenlose Schrift für Monotype entwerfen
sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Gill ausschließlich Versalien verwen¬
det. Wie so häufig unterschieden sich die ersten Zeichnungen seiner Klein¬
buchstaben recht deutlich von den später gegossenen Lettern. Als die Gill
Sans Ende der i92oer-Jahre auf den Markt kam, war sie allerdings nicht
ganz das, worauf die britische Druckbranche gewartet hatte. Ihre verhaltene
Aufnahme bei der Kundschaft im Jahr 1928 ähnelte der der Futura im Jahr
zuvor. In Kommentaren zu Paul Renners Entwurf war die Rede von einer
Mode, die bald vergessen sein würde.
Die Futura ist eine zeitlose, elementare Schriftart. 1925 gab Jan Tschichold
ein Sonderheft der Typographischen Mitteilungen mit dem Titel „Elementare
Typografie" heraus, in der er erstmals seine Überlegungen zur Schaffung
einer neuen Typografie formulierte. Aus den Reihen der bestehenden