JAN TSCHICHOLD
DER CHINESISCHE STEMPEL:
URSPRUNG DES BUCHDRUCKS
ÜBERREICHT
VON BUCHERER, KUR RUS ôc CO
PAPIERE EN GROS BASEL
Der älteste und einfachste Buchdruck der Welt ist der
Fingerabdruck. Die leicht erhabenen Linienmuster
der menschlichen Hand, der Finger und des Daumens
sind sicherlich schon in der Vorzeit dann und wann
bemerkt worden. Viel später erst lernte man, daß diese Papillarlinien¬
muster oder Hautleistenfiguren bei jedem Menschen verschieden
sind. Ein Stückchen Tonerde chinesischen Ursprungs hat sich erhal¬
ten, das auf der einen Seite einen deutlichen Daumenabdruck und
auf der ändern den vertieften farblosen Abdruck eines chinesischen
Namenssiegels zeigt. Es mag als Beweismittel zu einer Urkunde, ei¬
nem Brief oder einer Umhüllung gehört haben und ist spätestens im
dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung angefertigt worden7.
Der Daumenabdruck sollte gewiß die Glaubwürdigkeit des Siegels
erhärten. Will man in ihm nicht bloß einen Anwesenheitsbeweis des
Unterzeichners sehn*, so belegt er, daß man schon in so früher Zeit
in China empirisch die unfälschbare Individualität des Fingerab¬
drucks erkannt hatte. Läufer7 meint, originale Ideen seien so selten,
daß es höchst unwahrscheinlich wäre, daß eine komplexe Folge von
Ideen, wie sie der Vorgang des Fingerabdrucks ist, einige Male von
verschiedenen Nationen oder Menschen unabhängig entwickelt wur¬
de. * Der Fingerabdruck lieferte auch die Idee der ältesten künst¬
lichen Hochdruckform, des Stempels. Es gibt einige alte und neue¬
ste chinesische Stempel, die keine Schriftzeichen, sondern das Papil¬
larlinienmuster eines Fingers enthalten. Einen solchen Stempel zeigt
die Abbildung am Anfang dieser Seite. In alten Zeiten hat ein Be¬
fehlshaber dem Stempel oft seinen Fingerabdruck hinzugefügt. Noch
heutzutage drückt in China ein Mann, der keinen Stempel führt, da¬
für den eingefärbten Finger auf. * Das chinesische Wort für «Stem¬
pel» ist yin. Das Zeichen yin ist in zwei verschiedenen Formen auf
dem Umschlag und dem Titelblatt dieses Aufsatzes, in Siegelschrift
geschrieben, abgebildet. Die heutige Form des Zeichens ist tp. Yin
bedeutet aber auch «Buchdruck». Dies besagt, daß China die Erfin-
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Title page and first text page of Tschichold's
booklet on 'Chinese blocks: the origin of
book printing', privately printed, 1972.
Slightly reduced.
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m
Jan and Edith Tschichold with Antonia McLean
(centre), Berzona, 1971. Photo by the author.
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