JAN TSCHICHOLD
DIE N EU E TYPO G R APHIE
EIN HANDBUCH FÜR ZEITGEMftSS SCHAFFENDE
BERLIN 1928
VERLAG OES BILDUNGSVERBANDES DER DEUTSCHEN BUCHDRUCKER
Beziehungen nachzuweisen und seine Konsequenzen darzulegen, Klarheit
über die Elemente der Typographie und die Forderung zeitgemäßer typo¬
graphischer Gestaltung zu schaffen, Ist Gegenstand dieses Buchs. DerZusam-
menhang derTypographie mit allen anderen Gestaltungsgebieten, vor allem
der Architektur, hat In allen bedeutenden Zelten bestanden. Heute erleben wir
die Geburt einer neuen, großartigen Baukunst, die unserer Zeit das Gepräge
geben wird. Wer einmal die tiefe innere Ähnlichkeit derTypographie mit der
Baukunst erkannt und die Neue Architektur ihrem Wesen nach begreifen
gelernt hat, für den kann kein Zweifel mehr daran sein, daß die Zukunft der
Neuen und nicht der alten Typographie gehören wird.
Und es ist unmöglich, daß etwa, wie manche meinen, auch in Zukunft beide
Typographien wie noch heute weiter nebeneinander bestehen. Der kommende
große Stil wäre keiner, wenn neben der zeitgemäßen noch die Renaissance¬
form auf irgendwelchen Gebieten, sei es Buchdruck oder Architektur, weiter
existierte. Der Romantismus der vergehenden Generation, so verständlich
er ist, hat noch nie einen neuen Stil verhindert. So wie es heute absurd ist,
Villen wie Rokokoschlösser oder wie gotische Burgen zu bauen wie vor vierzig
Jahren,wird man morgen diejenigen belächeln,die die alteTypographie noch
weiter zu erhalten trachten.
In dem Kampfe zwischen dem Alten und dem Neuen handelt es sich nicht
um die Erschaffung einer neuen Form um ihrer selbst willen. Aber die neuen
Bedürfnisse und Inhalte schaffen sich selbst eine auch äußerlich veränderte
Gestalt. Und so wenig man diese neuen Bedürfnisse hinwegdisputieren kann,
sowenig ist es möglich, die Notwendigkeit einer wirklich zeitgemäßen Typo¬
graphie zu bestreiten.
Darum hat der Buchdrucker heute die Pflicht, sich um diese Fragen zu
bemühen. Einige sind mit Energie und Elan schöpferisch vorangegangen,
für die anderen aber gilt es noch fast ALLES ^
zu tun •
DIE ALTE TYPOGRAPHIE (1450-1914)
Während die Geschichte derTypographie von derErfindung bis etwa zurMitte
des vorigen Jahrhunderts eine fortlaufende, ruhige Entwicklungskurve zeigt,
bietet die Entwicklung seit dieser Zeit das Bild ruckweiser, unorganischer
Störungen, einander durchkreuzender Bewegungen, die Tatsachen neuer
technischer Erfindungen, die auf die Entwicklung bestimmend einwirken.
Die Typographie der ersten Epoche (1440—1850) beschränkt sich fast aus¬
schließlich auf das Buch. Die Gestaltung der daneben auftauchenden Flug¬
zettel und der wenigen Zeitungen entspricht der der Buchseite. Bestimmen¬
des Element, besonders seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts, ist die Type.
Die übrigen Teile des Buches erscheinen sekundär, sie sind angefügt,
schmückend, nicht Wesensbestandteil. Die Buchgestalt als Ganzes wird im
Laufe der Jahrhunderte zwar variiert, aber nicht entscheidend gewandelt.
Gutenberg, der nichts anderes im Sinne hatte, als die damalige Buchform —
die Handschrift — zu imitieren, entwickelte seine Typen aus der damaligen
Buchschrift, der gotischen Minuskel. Sie, die man heute gern religiösen und
anderen feierlichen Inhalten vorbehält, diente zu ihrerZeitzur Niederschrift
oder zum Druck aller vorkommenden, auch profaner, Texte. Der Erfinder
wählte mit der gotischen Minuskel, der „Textur", eine Schrift zum Vorbild,
die für Inhalte von Bedeutung, d. h. für solche Bücher verwendet wurde,
deren Inhalt den Horizont nur aktuellen Interesses überschritt. Neben dieser
gotischen Minuskel war im täglichen Leben für aktuelle Schriften, Urkunden
und kurze Niederschriften die gotische Kursive (in Frankreich Bâtarde ge¬
nannt) in Gebrauch, die später Schoeffer zur Ausgangsform der von ihm
zuerst benutzten Schwabacher machte. Mit diesen zwei Schriftarbeiten be¬
gnügte sich dasZeitalterzwischen derErfindung und dem Beginn destò. Jahr¬
hunderts. Von den Variationen der Gotisch und der Schwabacher, die mit den
Schriften Gutenbergs und Schoeffers die allgemeine Linienführung gemein
haben, dürfen wir bei dieser historischen Betrachtung ebenso absehen, wie
von den Formen der Antiquatype vor 1500.
Die Buchform als Ganzes gleicht zu dieser Zeit fast vollkommen der Form
des geschriebenen spätgotischen Kodex. Sein Reichtum an bemalten, gold¬
gehöhten großen und farbigen kleinen Initialen, die Rubrikatur, die Rand¬
leisten der Anfangsseiten werden in das gedruckte Buch übernommen.
Ursprünglich mit der Hand eingefügt, werden diese schmückenden Teile
bald in Holz geschnitten und mit g e d r u с kt, bei kostbareren Ausführungen
eines Buches nachträglich koloriert. Der Satz in zwei Kolumnen überwiegt.
Die Titel zeigen eine asymmetrische, von Logik nicht übermäßig belastete
Aufteilung. Selten, daß axiale Gliederungen erscheinen — sie bleiben auf
Italien beschränkt. Die Harmonie von Text, Initialen und Titelei wird von
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Double spread from Die neue Typographie,
reduced. The last sentence on p.14 reads in
English: That Is why printers today have a duty
to concern themselves with these questions.
Some have forged ahead with energy and
creative success: for the rest, however, It seems
that there Is still almost everything to do!'
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